Das Echo dunkler Tage
Amaia einmal erzählt, dass man beim Abbruch eines Hauses die Knochen von zehn Babys gefunden hatte, kleine Wächter, die sich über Jahrhunderte unter dem Vordach angesammelt hatten.
Amaia ging die Santiago-Straße entlang, hielt sich eng an den Portalen, um nicht voll dem Wind ausgesetzt zu sein, der in der Javier-Ciga-Straße sogar noch stärker wehte. Schließlich kam sie am Hotel Trinquete an, dem Gebäude, das der Brücke ihren Namen gegeben hatte. Das Wasser im Wehr rauschte ohrenbetäubend laut. Amaia fragte sich, wie die Anwohner, deren Fenster zum Fluss gingen, überhaupt schlafen konnten. Es war kein Licht mehr im Trinquete, die Straßen waren ausgestorben wie ein Geisterdorf. Amaia war, als würde sie einer inneren Strömung folgen, durch die Del-Sol-Straße in Richtung Txokoto, hin zur Backstube. Als sie vor dem Eingang stand, zog sie eine Hand aus der Tasche ihrer Daunenjacke und legte sie auf das eiskalte Schloss. Dann lehnte sie den Kopf an das raue Holz der Tür und begann still zu weinen.
24
S ie war tot. Das wusste sie so sicher, wie sie vorher gewusst hatte, dass sie lebte. Sie war tot. Und obwohl sie sich dessen bewusst war, nahm sie alles wahr: das Blut, das noch in ihrem Kopf zirkulierte, das mitten in einem Schlag stehen gebliebene Herz.
Die seltsame Stille in ihrem Körper machte sie hellhörig für alle Geräusche außen: das stetige Tropfen von Wasser auf eine Stahlplatte; das angestrengte Keuchen von jemandem, der an ihren leblosen Gliedern zerrte; das schnelle, unrhythmische Atmen; das drohende Flüstern. Aber es war ihr gleichgültig, denn alles war zu Ende. Der Tod war das Ende aller Angst, und dieses Wissen löste fast ein Glücksgefühl in ihr aus. Sie war ein totes Mädchen in einem weißen Grab. Jemand, der vor Anstrengung stark keuchte, begann sie zu begraben.
Die Erde war weich und duftete, legte sich auf ihre kalten Glieder wie eine warme Decke. Die Erde war gnädig zu den Toten, dachte sie, aber nicht derjenige, der sie begrub. Er schaufelte sie weiter zu, bis ihre Hände, ihr Mund, ihre Augen und ihre Nase ganz bedeckt waren. Die Erde, die ihr in den Mund drang, wurde zu einer teigigen Masse, klebte an ihren Zähnen, wurde auf ihren Lippen hart, wanderte zu ihrer Nase hinauf. Obwohl sie tot war, atmete sie die gütige Erde ein und hustete. Das Monster schaufelte immer schneller, stieß erstickte Schreie aus. Immer mehr Erde bedeckte ihren Mund, und trotzdem schrie sie:
»Ich bin doch nur ein kleines Mädchen.«
Aber ihr Mund und ihre Zähne waren wie verklebt, eine unüberwindliche Grenze.
»Amaia … Amaia …«, rief James.
Sie sah ihn entsetzt an, während ihr war, als raste sie mit einem Fahrstuhl nach oben, heraus aus dem Abgrund, in dem sie gerade gefangen gewesen war. Als sie James schließlich erkannte, konnte sie sich kaum noch an ihren Traum erinnern, nur an das entsetzliche Gefühl. James streichelte ihr sanft übers Haar.
»Guten Morgen«, flüsterte Amaia.
»Guten Morgen, hier ist dein Kaffee.«
In ihrer Studienzeit in Pamplona, als sie in einer Wohnung ohne Heizung gelebt hatte, hatte sie es sich angewöhnt, ihren Kaffee im Bett zu trinken. Sie war aufgestanden, hatte sich schnell eine Tasse gemacht und war wieder unter die Decke geschlüpft, bis ihr warm geworden war. Erst wenn sie wach genug gewesen war, hatte sie sich schnell angezogen. James hingegen frühstückte nie im Bett, aber er brachte ihr jeden Morgen einen Kaffee, damit sie ihrer Gewohnheit frönen konnte.
»Wie viel Uhr ist es?«, fragte sie und griff nach ihrem Handy, das auf dem Nachttisch lag.
»Halb acht. Du hast also noch Zeit.«
»Ich muss unbedingt Ros sprechen, bevor sie zur Arbeit fährt.«
James schüttelte den Kopf.
»Sie ist schon weg.«
»Verdammt, es war wichtig! Ich wollte …«
»Ist vielleicht besser so. Sie machte einen gefassten Eindruck, aber vielleicht solltet ihr beide trotzdem ein paar Stunden warten, bis ihr euch wieder ganz beruhigt habt.«
»Du hast recht«, sagte Amaia, »aber du weißt ja, wie ich bin. Ich packe die Dinge lieber sofort an.«
»Dann trink schnell deinen Kaffee aus, und pack diesen Mann an, den du in letzter Zeit ein bisschen vernachlässigt hast.«
Sie stellte die Tasse auf den Nachttisch und zog James zu sich, bis er auf ihr lag.
»Gesagt, getan!«
Sie küsste ihn leidenschaftlich. Und sie liebte, wie er sie küsste, seine Art, sich ihr zu nähern. Wenn er ihr so in die Augen sah, wusste sie schon, dass sie miteinander schlafen
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