Das Echo dunkler Tage
Amaia ging zum Aufzug, drückte den Knopf und sah noch einmal zu dem Polizisten. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie machte kehrt und ging zurück zur Rezeption.
»Kann ich mal Ihr Handy sehen.«
»Tut mir leid, Inspectora, ich …«
»Ich will nur kurz einen Blick darauf werfen.«
Er reichte ihr das Gerät, das im Licht des Eingangsbereichs silbrig glänzte. Amaia betrachtete es eingehend.
»Neu?«
»Ja, ziemlich«, erklärte er voller Besitzerstolz.
»Sieht teuer aus, jedenfalls ist das keins, was man für Sammelmarken kriegt.«
»Stimmt. Kostet achthundert Euro, limitierte Edition.«
»So eins habe ich bisher nur einmal gesehen.«
»Das kann aber noch nicht lang her sein, das Modell ist nämlich erst seit zehn Tagen auf dem Markt. Meins habe ich vor einer Woche gekauft und war damit einer der Ersten.«
»Glückwunsch«, sagte sie und rannte zum Fahrstuhl, bevor die Türen sich wieder schlossen.
Auf ihrem Schreibtisch lag das Ergebnis der Hausdurchsuchung: ein Laptop, ein Handy, die Ausdrucke der E-Mails aus den vergangenen vier Wochen, Telefonrechnungen und mehrere Tütchen mit Proben, die aussahen wie Haschisch. Jonan verglich gerade eine Rechnung mit den Daten, die er auf seinem Bildschirm hatte.
»Guten Abend«, grüßte Amaia.
»Hallo, Chefin«, antwortete er abwesend, ohne den Blick vom Computer zu wenden.
»Irgendwas gefunden?«
»In den E-Mails nicht, aber auf dem Handy sind jede Menge Nachrichten gespeichert. Ziemlich selbstmitleidiges Zeug. Aber keine SMS ging an Anne Arbizu.«
»Vielleicht doch. Sie hatte nämlich noch ein anderes Handy«, erklärte sie. Erstaunt drehte er sich zu ihr um.
»Ich habe gerade so ein Modell gesehen, wie Anne Arbizu eines hatte. Offenbar ist es teuer und erst seit zehn Tagen auf dem Markt. Ihr Vertrag ist auch erst zehn Tage alt. Es wäre doch merkwürdig, wenn ein Mädchen wie Anne Arbizu erst seit zehn Tagen ein Handy hätte. Und sich genau in dem Moment eines zulegte, als sie von Freddy die Nase voll hatte. Anne war ziemlich praktisch veranlagt. Weil sie nicht nur die SIM-Karte ›verlieren‹ konnte, hat sie einfach das ganze Handy weggeworfen und ihre Mutter gebeten, ihr ein neues zu kaufen. Und schon hatte sie eine neue Nummer.«
»Ah«, murmelte Jonan.
»Frag mal ihre Eltern. Ihre alte Nummer müsste auf Freddys Rechnung auftauchen. Habt ihr sonst noch was entdeckt?«
»Nein, bis auf das Marihuana. In den Kisten, die Ros mitgenommen hat, waren nur persönliche Sachen. Ich muss noch ihre Post durchgehen, aber mir scheint, das sind nur Rechnungen und Werbung, jedenfalls nichts, was darauf hindeuten würde, dass Ihre Schwester von der Affäre wusste.« Amaia atmete tief durch und stellte sich an die Fensterfront. Nur der Eingangsbereich lag im gelblichen Licht der Straßenlaternen, dahinter war nichts als Dunkelheit. »Inspectora, ich brauche noch eine Weile, aber ich kriege es allein hin. Sie können ruhig nach Hause fahren. Wenn was ist, melde ich mich.«
Sie lächelte ihn an und zog den Reißverschluss ihrer Daunenjacke hoch.
»Gute Nacht, Jonan!«
Draußen bat sie einen Streifenpolizisten, sie zur Bar Saioa zu fahren. Dort bestellte sie einen Espresso, den der Inhaber ihr ohne Murren zubereitete, obwohl er die Kaffeemaschine schon geputzt hatte. Weil er sehr heiß war, trank sie das kräftige Gebräu in kleinen Schlucken. Sie tat so, als merke sie nicht, wie die Stammgäste sie anstarrten, die sich ihrerseits von der sibirischen Kälte draußen nicht beeindrucken ließen und Gin Tonics aus bis an den Rand mit Eiswürfeln gefüllten Sidregläsern tranken. Als Amaia aufbrach, kam es ihr so vor, als wäre die Temperatur schlagartig um mehrere Grad gesunken. Sie steckte die Hände in die Tasche und überquerte die Straße. Die meisten Häuser im Tal waren so gebaut, dass sie dem feuchten Klima trotzen konnten. Sie hatten drei oder vier Stockwerke und ein Satteldach aus Ziegeln, dessen großer Vorsprung den Rand des Grundstücks markierte. Eingefleischte Fußgänger fanden darunter etwas Schutz vor dem Regen. Laut Pfarrer Barandiaran wurden auf diesem engen Streifen zwischen der Hauswand und der Stelle, an der das Wasser vom Dach auf den Boden plätscherte, Babys begraben, die entweder schon im Mutterleib oder bei der Geburt gestorben waren. Dem Volksglauben nach beschützten deren Geister, die Mairus, das Haus vor dem Bösen. Gleichzeitig war auf diese Weise garantiert, dass sie so für immer dort wohnen blieben, wie ewige Kinder. Engrasi hatte
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