Das Echo dunkler Tage
wurden. Im realen Leben waren für die Analysen von Proben selbst bei höchster Dringlichkeitsstufe mindestens zwei Wochen vonnöten, in weniger dringenden anderthalb Monate. In Navarra kam noch erschwerend hinzu, dass es für DNA-Analysen kein rechtsmedizinisches Labor gab, sodass Proben nach Saragossa geschickt werden mussten, was noch dazu enorme Kosten verursachte. Vor allem aber amüsierte es sie, dass sich die Ermittler in diesen Serien über Leichen beugten und plauderten, obwohl von dort übelkeiterregende Gase aufsteigen mussten.
Wie sie gelesen hatte, hielten Richter und Polizisten diese geschönte Darstellung inzwischen für kontraproduktiv, weil sie Geschworene dazu verleitete, ohne Sinn und Verstand nach Analysen zu verlangen. Andererseits konnten Rechtsmediziner mittlerweile ihre Ergebnisse präsentieren, ohne dass es nach Fachchinesisch klang. Noch bis vor zehn Jahren hätte der Bericht eines Entomologen den meisten Menschen nichts gesagt, während heute fast jedes Kind wusste, dass man mit Hilfe von Larven und Leichenfauna Zeitpunkt und Ort des Todes bestimmen konnte.
Amaia ging zu der Wanne, in der die Kleidungsreste lagen.
»Padua, wir haben hier Reste einer blauen Jeans, eine rosafarbene Fleecejacke von Nike, silberne Sportschuhe und weiße Socken. Können Sie mir sagen, welche Kleidung das Mädchen trug, als sie laut Anzeige verschwand?«
»Jeans und ein rosafarbenes Sweatshirt«, flüsterte er.
»Dr. San Martín, würden Sie sagen, dass das Mädchen noch am Tag seines Verschwindens starb?«
»Sehr wahrscheinlich, ja.«
»Dürfte ich mal Ihr Büro benutzen, Doktor?«
»Selbstverständlich.«
Amaia knöpfte ihren OP-Kittel auf und warf einen letzten Blick auf die Leiche, bevor sie zu den Waschbecken ging.
»Jonan, hol doch bitte Johanas Mutter rein, und führ sie ins Büro von Dr. San Martín.«
Obwohl Amaia schon oft im Rechtsmedizinischen Institut von Navarra gewesen war, hatte sie San Martíns Büro noch nie betreten. Es schien ihm nichts auszumachen, die Berichte in einem kleinen, für seine Assistenten gedachten Kabuff neben dem Autopsiesaal zu unterzeichnen. Sie hatte daher erwartet, dass das Büro seinen eigentümlichen Charakter widerspiegeln würde, und war auf die luxuriöse Einrichtung des, wie ihr schien, allzu großen Raums nicht gefasst. Die funktionalen Möbel entsprachen mit ihrem nüchternen, modernen Design noch ihrem Vorurteil, nicht aber die unzähligen Bronzeskulpturen, die mit äußerster Sorgfalt ausgeleuchtet waren. Auf dem großen Tisch stand eine rund siebzig Zentimeter hohe Pieta, die ein ziemliches Gewicht haben musste. Amaia fragte sich, wer sie wohl wegräumte, wenn der Tisch für eine Versammlung benötigt wurde.
Johanas kleine Schwester saß an einem Ende des Tischs und wirkte fast überfordert von all den Blättern und Kugelschreibern, die Jonan ihr hingelegt hatte. Die Mutter betrachtete fasziniert den toten Christus in den Armen seiner Mutter. Ihr Gesicht hatte etwas ängstlich Flehendes, ihre Lippen zitterten leicht.
»Sie betet«, erklärte Jonan der verdutzten Amaia. »Und sie hat mich gefragt, ob die Skulptur geweiht ist.«
»Wie heißt sie überhaupt?«
»Inés, Inés Lorenzo. Und das Mädchen heißt Gisela.«
Amaia wollte Inés Lorenzo bei ihrem Gebet nicht stören, aber sie hatte sie bemerkt und kam auf sie zu. Amaia bat sie, Platz zu nehmen, und setzte sich zu ihr. Jonan blieb an der Tür stehen, und Iriarte setzte sich so, dass er die Frau von schräg hinten beobachten konnte.
»Inés, ich bin Inspectora Salazar, und das sind meine Kollegen, Subinspector Etxaide, Inspector Iriarte und Teniente Padua von der Guardia Civil, den Sie, glaube ich, schon kennen.«
Padua setzte sich etwas abseits, wofür Amaia ihm dankbar war.
»Wie Sie wissen, hat heute ein Streifenwagen der Guardia Civil die Leiche Ihrer Tochter gefunden.«
Die Frau saß steif da und sah sie an, schien fast die Luft anzuhalten.
»Bei der Autopsie wurde festgestellt, dass sie bereits seit mehreren Tagen tot ist. Sie trug dieselbe Kleidung, die sie laut Ihren Angaben am Tag ihres Verschwindens trug.«
»Ich wusste es«, flüsterte sie und sah Padua mit einem Blick an, in dem weniger Vorwurf lag, als man hätte meinen sollen. Amaia hatte Angst, dass sie in Tränen ausbrechen würde. Stattdessen sah sie sie erneut an und fragte: »Hat er sie vergewaltigt?«
»Alles deutet auf einen Akt sexueller Gewalt hin, ja.«
Inés Lorenzo presste die Lippen zusammen, als müsste sie
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