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Das Echo

Titel: Das Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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mich noch erinnern - an eins ganz besonders, weil er’s so oft gesagt hat. Ziemlich verrückt, da hat der Vater geweint und die Mutter geschrien und der böse Feind ist in Wolken gehüllt in die Welt gesprungen.«
    »Wissen Sie den Text noch?«
    Terry sah die anderen hilfesuchend an. »Nicht richtig«, antwortete er, als er nirgends Hilfe fand. »Er hat immer mit ›Der Vater weinte, Mutter gellt‹ angefangen, aber was danach kam, weiß ich nicht mehr.«
    Deacon legte schützend die Hände um seine Zigarette und grub tief in seiner Erinnerung. »›Der Vater weinte, Mutter gellt!‹« murmelte er. »›So sprang ich in die rauhe Welt: Hilflos, nackt und lauthals schrei’nd: In Wolken gehüllt wie der böse Feind.‹«
    »Genau«, sagte der junge Mann überrascht und beeindruckt. »Mann, woher kennen Sie’n das?«
    »Es ist ein Gedicht mit dem Titel ›Kindliches Lied‹ von einem Mann namens William Blake. Ich habe vor Jahren eine Arbeit über ihn geschrieben. Er war ein Dichter und Kupferstecher des achtzehnten Jahrhunderts, den seine Zeitgenossen für verrückt hielten, weil er behauptete, Visionen zu haben.« Deacon lächelte schwach. »William hat ein paar wunderbare Gedichte geschrieben, aber er hat in Armut gelebt und ist in Armut gestorben, weil man sein Genie erst nach seinem Tod erkannte. Ich vermute, Ihr Freund kannte William und sein Werk ziemlich genau.«
    »Garantiert«, meinte Terry, der sofort begriff. »William Blake, Billy Blake. Was hat der Kerl sonst noch geschrieben?«
    »›Tiger, Tiger! Brand, entfacht / In den Wäldern tiefer Nacht...‹« Deacon hielt inne, um den Jungen den Vers vollenden zu lassen.
    »›Welch unersterblich Aug’ und Hand / Hat dich in dein Maß gebannt?‹« deklamierte der Junge triumphierend. »Ja, das hat Billy dauernd runtergeleiert.«
    Deacon nickte und fragte sich flüchtig, ob Billy Blake vielleicht Lehrer gewesen war. »Im nächsten Vers hieß es in einer Zeile: ›Wessen Hand die Funken schlug?‹ Was meinen Sie, hatte er das im Kopf, als er seine Hand ins Feuer hielt?«
    »Keine Ahnung. Kommt drauf an, was es heißt.«
    »Der Tiger verkörpert Macht, Energie und Grausamkeit. In dem Gedicht wird er als ein schönes, aber unbezähmbares Geschöpf beschrieben, das im Feuer geschmiedet wurde, und dann wird die Frage gestellt, woher sein Schöpfer den Mut nahm, etwas so Gefährliches zu schaffen.« Deacon sah, daß die anderen ihm nicht mehr folgten, doch in Terrys Gesicht blitzte noch waches Interesse. »Es ist die Hand des Schöpfers, die die Funken schlug; vielleicht hat Billy geglaubt, er hätte etwas angefangen, das er nicht beherrschen konnte.«
    »Vielleicht.« Ein geistesabwesender Ausdruck trat in die Augen des jungen Mannes, als er über den Fluß starrte. »Ist der Schöpfer Gott?«
    » Ein Gott. Blake sagt nicht, welcher.«
    »Billy hat gemeint, es gäbe massenhaft Götter. Kriegsgötter. Liebesgötter. Flußgötter. Götter für alles und jedes. Er hat sie immer beschimpft. ›Es ist eure Schuld, ihr Pack‹, hat er oft geschrien, ›laßt mich in Ruhe und laßt mich sterben.‹ Ich hab’ gesagt, er solle doch einfach nicht mehr daran glauben, daß es die Götter gibt, dann müßte er sie auch nicht hassen. Ist doch logisch, oder?« Das magere Gesicht wandte sich wieder dem Feuer zu.
    »Was glaubte er denn, woran die Götter schuld seien?«
    »Er hat es nicht geglaubt «, verbesserte Terry mit Nachdruck, »er hat es gewußt .« Er hob den Arm und griff mit der Hand in die Luft. »Er hat jemanden erdrosselt, weil die Götter es ihm zum Schicksal bestimmt hatten. Drum hat er die Hand ins Feuer gehalten. Er hat sie das ›sündige Werkzeug‹ genannt und gesagt, ›solche Opfer sind notwendig, wenn der Zorn der Götter abgelenkt werden soll‹. Der arme Hund. Die meiste Zeit hat er nicht mal gewußt, wo rechts und links ist.«
     
    Auf Terrys Rat gab Deacon die Flasche Whisky in die Obhut des Alten mit der Wollmütze, ehe er Terry in die Lagerhalle folgte, um sich anzusehen, wo Billy seinen Schlafplatz gehabt hatte.
    »Nichts als Zeitverschwendung«, murrte der Junge. »Er ist seit sechs Monaten tot. Was erwarten Sie denn, da zu finden?«
    »Irgendwas.«
    »Mensch, seit er krepiert ist, haben hundert Kerle an seinem Platz gepennt. Da finden Sie bestimmt nichts.« Dennoch führte er Deacon in die Finsternis. »Hey, spinnen Sie?« fragte er belustigt, als Deacon seine Taschenlampe anmachte. »Das bißchen Licht hilft Ihnen gar nichts. Warten Sie einfach

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