Das Echo
ab, okay. Ihre Augen gewöhnen sich schon an die Dunkelheit. Durch die Tür kommt genug Licht.«
Langsam erkannte Deacon eine graue Mondlandschaft, eine Ödnis aus verbogenem Metall, Backsteinhaufen und ausrangiertem Lagerhallenmobiliar. Es war eine Trümmerlandschaft wie nach dem Krieg, wo nichts Wiedererkennbares mehr existierte und nur der beißende Geruch nach Urin auf menschliches Dasein schließen ließ. »Wie lange sind Sie schon hier?« fragte er Terry, als er inmitten des Chaos die ersten Schlafenden ausmachte.
»Zwei Jahre mit Unterbrechungen.«
»Warum hier? Warum haben Sie sich nicht ein besetztes Haus oder ein Wohnheim gesucht?«
Der Junge zuckte die Achseln. »Das hab’ ich schon hinter mir. So übel ist das hier nicht.« Er ging voraus an einem Backsteinhaufen vorbei und wies auf eine notdürftig gebaute Höhle aus Kunststoffplatten und alten Decken. Er zog eine der Decken zur Seite und griff in die Öffnung, um eine batteriebetriebene Sturmlaterne einzuschalten. »Schauen Sie sich’s an«, lud er ein. »Das ist mein Lager.«
Deacon war auf eine merkwürdige Art neidisch. Es war ein zusammengeschustertes Zelt mitten in einem nach Urin stinkenden Trümmergrundstück, aber es besaß persönlichen Charakter, der seiner eigenen Wohnung fehlte. An die Kunststoffwände waren Poster von halbnackten Frauen gepinnt, auf dem Boden lag eine Matratze mit einer handgemachten Patchworkdecke, auf einem Büroschrank aus Metall standen verschiedene Ziergegenstände, über einem Korbstuhl lag ein Morgenrock, und auf einem kleinen gestrichenen Tisch stand ein Marmeladenglas mit roten Plastikrosen. Deacon ging hinein und setzte sich auf den Stuhl, wobei er den Morgenrock sorgsam auf seinem Schoß faltete. »Nett hier. Sie haben es schön eingerichtet.«
» Mir gefällt’s. Das meiste Zeug hab’ ich vom Sperrmüll. Es ist total irre, was die Leute alles wegschmeißen.« Terry drängte sich nach ihm in das Zelt und legte sich auf das Bett. Entspannt sah er jünger aus als vorher in der angespannten Konzentration gegen den Wind. »Man hat hier mehr Freiheit als in einem Wohnheim, und es ist nicht so eng wie in einem besetzten Haus. Da gehen einem die anderen schnell auf die Nerven.«
»Haben Sie keine Familie?«
»Nee. Bin mein Leben lang nur rein in die Heime, raus aus den Heimen. Ein Mann hat mir mal erzählt, daß meine Mutter ins Gefängnis gekommen und ich deshalb in Pflege gekommen sei, aber ich hab’ nie versucht, sie zu finden. Die hat’s eh nicht geschafft, da wär’s nur Zeitverschwendung gewesen, sie zu suchen. Ich komm’ ganz gut über die Runden.«
Deacon prägte sich bewußt das junge Gesicht ein, um sich später daran erinnern zu können. Aber es war nichts Bemerkenswertes an dem Jungen. Er war nicht anders als Hunderte kahlgeschorener junger Burschen im gleichen Alter, alle gleich farblos, alle gleich unattraktiv. Er überlegte kurz, warum Terry keinen Vater erwähnt hatte, und vermutete, daß der Vater unbekannt und daher belanglos war. Er dachte an die vielen Frauen, mit denen er selbst im Lauf der Jahre geschlafen hatte. War eine von ihnen von ihm schwanger geworden und hatte einen Terry geboren, den sie dann verlassen hatte?
»Trotzdem kann’s doch nicht sehr lustig sein, so primitiv zu leben.«
»Na ja, ich bin nicht der erste, der’s tut, und ich werd’ bestimmt auch nicht der letzte sein. Wie ich schon gesagt hab’, ich komme zurecht. Alles was der Mensch getan hat, kann der Mensch tun.«
Der Ausdruck schien ungewöhnlich von einem Jungen wie Terry. »Hat Billy das gesagt?«
Der Junge zuckte gleichgültig die Achseln. »Kann schon sein. Der hat mir ja dauernd Predigten gehalten.« Er versuchte, einen kultivierten Ton anzuschlagen. »›Es gibt keine Rechte ohne Verantwortung, Terry. Die schwerste Sünde des Menschen ist der Stolz, weil er Gott auf eigene Gefahr entthront. Sei bereit - der Tag des Jüngsten Gerichts ist näher, als du glaubst.‹« Er kehrte zu seiner eigenen ungehobelteren Sprache zurück. »Ich sag’ Ihnen, man ist ganz blöd im Kopf geworden, wenn man ihm zugehört hat. Die meiste Zeit war er echt verrückt, aber er hat’s gut gemeint, und ich glaub’, ich hab’ einiges von ihm gelernt.«
»Zum Beispiel?«
Terry lachte. »Zum Beispiel: Narren stellen Fragen, die Weise nicht beantworten können.«
Deacon lächelte. »Wie alt sind Sie?«
»Achtzehn.«
Deacon bezweifelte das. Bei all seiner geistigen und sprachlichen Schlagfertigkeit, die es ihm
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