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Das Echo

Titel: Das Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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sagte er unvermittelt, als hätte er die ganze Zeit nur daran und an nichts anderes gedacht. »Sie steht in einem seiner visionären Gedichte über soziale Revolution und politische Umwälzung. Die Suche nach Freiheit bedeutet die Zerstörung der etablierten Autoritäten - mit anderen Worten, der Eltern -, und der Drang in die Freiheit bedeutet, daß jede Generation die gleichen Qualen durchmacht.« Er stand auf und blickte zum Fenster mit seiner Aussicht auf den Fluß. »William Blake - Billy Blake. Ihr ungebetener Gast war ein Verehrer eines Dichters, der seit nahezu zweihundert Jahren tot ist. Warum ist es in diesem Haus so kalt?« fragte er abrupt und zog seinen Mantel um sich.
    »Es ist nicht kalt. Sie sind verkatert. Darum frieren Sie.«
    Er blickte zu ihr hinunter. Wie eine strahlende Sonne saß sie da in ihrem teuren Designerkleid in ihrem teuren parfümierten Haus. Doch das Strahlen war nur oberflächlich, dachte er. Unter der glänzenden Fassade spürte er Verzweiflung.
    »Ich habe Tod gerochen, als ich vorhin aufgewacht bin«, sagte er. »Ist es das, was Sie mit dem Potpourri und dem Spray zu verdecken suchen?«
    Sie sah sehr überrascht aus. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
    »Vielleicht habe ich es mir eingebildet.«
    Sie lächelte kaum wahrnehmbar. »Dann kann ich nur hoffen, daß Ihre Phantasie wieder normal wird, wenn Sie den Alkohol ausgeschieden haben. Auf Wiedersehen, Mr. Deacon.«
    Er ging zur Tür. »Auf Wiedersehen, Mrs. Streeter.«
     
    Außerhalb des Villengebiets entdeckte er in einer kleinen Grünanlage eine Bank mit Blick auf die Themse. Er verkroch sich tief in seinen Mantel und ließ den Wind den giftigen Alkohol austreiben. Es war Ebbe, und im Schlick vor ihm durchwühlten vier Männer die Abfälle, die über Nacht angespült worden waren. Sie waren unbestimmbaren Alters, wie er vermummt in dicke Wintermäntel, und nichts an ihrem Äußeren verriet, wer sie waren oder woher sie kamen, jede Vermutung, die er über sie anstellte, würde wahrscheinlich so falsch sein wie ihre Vermutungen über ihn. Wieder, wie an dem Tag, an dem er Terry zum erstenmal begegnet war, wurde Deacon sich bewußt, wie wenig bemerkenswert die meisten menschlichen Gesichter waren; in anderer Umgebung, das wußte er, hätte er keinen dieser Männer wiedererkannt. Letztlich hatten die unterschiedlichen Anordnungen von Augen, Nase, Ohren und Mund mehr Gemeinsamkeiten als Merkmale, die sie voneinander unterschied, und lediglich Schmuck und Ausdruck waren es, die ihnen Individualität verliehen. Entferne sie, dachte er, und Anonymität ist garantiert.
    »Nun, wie lautet Ihr Urteil, Michael?« fragte jemand gedämpft an seiner Seite. »Gibt es welche unter uns, die es wert sind, gerettet zu werden, oder sind wir alle verdammt?«
    Deacon wandte sich dem gebrechlichen alten Mann mit dem grauen Haar zu, der sich lautlos neben ihn auf die Bank gesetzt hatte und die fleißige Arbeit am Flußufer mit der gleichen Aufmerksamkeit beobachtete wie er. Stirnrunzelnd versuchte er, sich zu erinnern, woher er dieses Gesicht kannte. Es war jemand, den er einmal interviewt hatte, dachte er; aber er hatte mit so vielen Menschen gesprochen und erinnerte sich später selten ihrer Namen.
    »Lawrence Greenhill«, sagte der Alte. »Sie haben vor zehn Jahren mit mir ein Interview zu einem Artikel über Euthanasie mit dem Titel ›Die Freiheit zu sterben‹ gemacht. Ich war damals praktizierender Anwalt und hatte einen Leserbrief an die Times geschrieben und auf die praktischen und ethischen Gefahren legalisierten Selbstmords sowohl für den einzelnen als auch seine Familie hingewiesen. Sie waren anderer Meinung als ich und bezeichneten mich wenig schmeichelhaft als einen ›selbstgerechten Richter, der die höchste moralische Weisheit für sich in Anspruch nimmt‹. Ich habe diese Worte nie vergessen.«
    Deacon sank der Mut. Das hatte er nicht verdient, nachdem er heute morgen bereits ein Bad in Schuldgefühlen hinter sich hatte. »Ich erinnere mich«, sagte er. Nur zu gut. Der alte Knabe hatte sich mit so viel selbstzufriedener Gelassenheit auf die biblischen Grundlagen seiner Ansichten berufen, daß Deacon ihm am liebsten den Kragen umgedreht hätte. Aber Greenhill hatte natürlich nicht gewußt, daß dieses ganze Thema für Deacon ein Reizthema war. ›Selbstmord in jeder Form ist sündhaft, Michael... wir verdammen uns selbst, wenn wir Gottes Macht an uns reißen...‹ <
    »Tja, tut mir leid«, sagte er abrupt, »aber ich bin immer

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