Das Echo
noch anderer Meinung als Sie. In meiner Philosophie gibt es keine Verdammnis.« Er drückte seine Zigarette aus und fragte sich, ob er überhaupt glaubte, was er sagte. Die Verdammnis war für Billy Blake real genug gewesen. »Und auch keine Erlösung. Die ganze Vorstellung beunruhigt mich. Werden wir von etwas erlöst oder für etwas erlöst? Wenn das erstere der Fall ist, dann wird unser Recht, nach unseren eigenen ethischen Gesetzen zu leben, von einem moralischen Totalitarismus bedroht, und wenn das letztere zutrifft, müssen wir blind der negativen Logik folgen, daß uns etwas Besseres erwartet, wenn wir sterben.« Er sah demonstrativ auf seine Uhr. »Und jetzt müssen Sie mich leider entschuldigen.«
Der alte Mann lachte leise. »Sie geben so leicht auf, mein Freund. Steht Ihre Philosophie denn auf so wackligen Füßen, daß sie sich einer Debatte nicht stellen kann?«
»Weit davon entfernt«, entgegnete Deacon, »aber ich habe Besseres zu tun, als mich zum Richter über das Leben anderer aufzuspielen.«
»Im Gegensatz zu mir?«
»Ja.«
Der alte Mann lächelte. »Dabei bin ich stets bemüht, niemals über andere zu richten.« Er machte eine kurze Pause. »Kennen Sie diese Worte von John Donne? ›Eines jeden Menschen Tod kränkt mich, weil ich ein Teil der Menschheit bin.‹«
Deacon vollendete das Zitat: »›Darum verlange niemals zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir.‹«
»Und nun sagen Sie mir, ist es unrecht, von einem Menschen zu verlangen, daß er weiterlebt, obwohl er Schmerzen leidet, wenn sein Leben für mich kostbarer ist als sein Tod?«
Deacon fühlte sich auf eine seltsame Art entrückt. Worte hämmerten gegen sein Hirn. ›Verschlinger deines Vaters… nun erneuert sich die unsagbare Qual… Wenn wir das Leben eines Menschen für so wertlos halten, daß nur noch die Art seines Sterbens von Interesse ist...‹ Er starrte Lawrence beinahe benommen an. »Wieso sind Sie hier? Ich weiß doch, daß ich nach Knightsbridge fahren mußte, um Sie zu interviewen.«
»Ich bin vor sieben Jahren umgezogen, nach dem Tod meiner Frau.«
»Ich verstehe.« Er rieb sich kräftig das Gesicht, um einen klaren Kopf zu bekommen. »Ja, also, es tut mir leid, aber ich muß jetzt gehen.« Er stand auf. »Es hat mich gefreut, mit Ihnen zu sprechen, Lawrence. Genießen Sie die Weihnachtsfeiertage.«
Der alte Mann zwinkerte. »Was gibt’s da zu genießen? Ich bin Jude. Glauben Sie vielleicht, es macht mir Vergnügen, daran erinnert zu werden, daß der größte Teil der zivilisierten Welt mein Volk für das verurteilt, was es vor zweitausend Jahren getan hat?«
»Verwechseln Sie jetzt nicht Weihnachten mit Ostern?«
Lawrence verdrehte die Augen zum Himmel. »Ich spreche von zweitausend Jahren der Isolation, und er feilscht um ein paar Monate.«
Deacon blieb, verführt von einem Augenzwinkern und der dreisten Erpressung. »Dann genießen Sie eben Hanukka, oder werden Sie mir jetzt sagen, daß das ebenfalls unmöglich ist, weil niemand da ist, mit dem zusammen Sie es genießen können?«
»Was kann ein kinderloser Witwer sonst erwarten?« Er sah, daß Deacon zögerte, und klopfte auf den freien Platz auf der Bank. »Kommen Sie, setzen Sie sich noch ein Weilchen und gönnen Sie mir ein paar Minuten das Vergnügen Ihrer Gesellschaft. Wir sind doch alte Freunde, Michael, und ich habe selten Gelegenheit zu einem Gespräch mit einem intelligenten Menschen. Würde es Sie erleichtern, wenn ich Ihnen sagte, daß ich immer besserer Anwalt als Jude war, daß also Ihre Seele in keinerlei Gefahr ist?«
Deacon redete sich ein, er setzte sich nur aus Neugier, aber die Wahrheit war, daß er Lawrence’ Zerbrechlichkeit nichts entgegenzusetzen hatte. Der Tod stand dem alten Mann so klar ins Gesicht geschrieben wie Alan Parker, und kurz vor Weihnachten war Deacons Empfindlichkeit dem Tod gegenüber stets intensiver.
»Ich habe gerade daran gedacht, wie gleich wir alle sind und wie leicht es wäre, aus unserem langweiligen Leben auszusteigen und neu anzufangen«, bemerkte Deacon mit einer Kopfbewegung zu den Männern am Ufer. »Würden Sie die zum Beispiel wiedererkennen, wenn sie Ihnen im Dorchester begegnen würden?«
»Ihre Freunde würden sie erkennen.«
»Nicht, wenn sie unerwartet in einer ganz anderen Umgebung mit ihnen zusammenträfen. Erkennen besteht darin, eine Serie bekannter Fakten in Beziehung zu setzen. Ändert man diese Fakten, dann wird das Erkennen gleich schwieriger.«
»Ist es denn das,
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