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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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nicht zu blühen vergessen.
    Mit dem letzten Schuß, mit der letzten Bombe beginnt das neue Leben. Was geschehen ist, ist nicht mehr zu ändern. Von jetzt ab aber wird jeder Handschlag, jeder Hammerschlag nicht mehr dem Tod und der Zerstörung, sondern dem Aufbau, dem Frieden, dem Leben dienen.
    Die Zeiten werden schwer sein, bis das Leben in Berlin wieder seinen Gang geht, bis jeder Berliner wieder sein Dach über dem Kopf, seinen Arbeitsplatz, sein tägliches Brot hat. Aber mit jedem Arbeitstag wird die erdrückende Last leichter werden, die die verfluchte Hitlerzeit auf euere Schultern lud.
    Aus dem Chaos wird wieder Ordnung werden. Unser zerrissenes, entwurzeltes, irregeführtes Volk wird sich auf dem Boden des Rechts wieder frei und sicher fühlen. Die redlich Schaffenden aller Stände und Weltanschauungen werden sich zu einer wahrhaft demokratischen Gemeinschaft zusammenschließen.
    Und Berlin wird dem Lande wieder vorangehen. An die Arbeit, Landsleute!
    Der Journalist
    Wiliam L. Shirer 1904–1993
San Francisco
    Während Berlin heute im Sterben liegt, in den Flammen und im Blut eines Krieges, der vor fast sechs Jahren am gleichen Ort begonnen wurde, erlebten wir zur gleichen Zeit in dieser strahlenden Stadt den ersten Schritt auf dem langen Weg in Richtung eines geordneten Friedens. Die Konferenz der sechsundvierzig vereinten Nationen nahm einen guten Anfang. Die Eröffnungszeremonie war einfach, aber – wie es bei einfachen Dingen oft der Fall ist – sehr bewegend. Hier, in einem strahlenden Opernhaus, erbaut einst im Gedenken an den Krieg, kommen die Hoffnungen aller Völker auf Frieden zum Ausdruck. In Berlin werden die Hoffnungen eines Wahnsinnigen auf Eroberung der Welt in den Trümmern einer einstmals großen Stadt begraben. Hier, in dieser wunderschönen Ansiedlung am Pazifik, werden anständigere Hoffnungen geboren.
    Jedermann schien das zu spüren. Ich habe Diplomaten – Männer, die gewöhnlich ziemlich stolz auf ihren Zynismus sind – noch nie so heilig ernst gesehen wie am heutigen Tage. Sie alle wissen, das spürte man förmlich, daß ihre Aufgabe diesmal zum Erfolg führen muß. – Zu einem dauerhaften Frieden.
    Es gab ein sehr symbolisches kleines Zeichen bei der heutigen Eröffnung. Auf der Bühne, unter den Flaggen der sechsundvierzig Nationen, hatte eine Abteilung GI’s Habtachtstellung bezogen. Es waren junge Soldaten. Sie haben den Krieg aus erster Hand erlebt. Einige waren verwundet worden. Es waren keine Offiziere. Es waren ganz gewöhnliche Amerikaner – amerikanische Durchschnittsbürger – in Uniform. Diese Amerikaner sind es, die jetzt auf der Errichtung einer Friedensordnung bestehen, damit sie und ihre Kinder niemals mehr das Grauen des Krieges erleben müssen.
    Grete Paquin
Geismar bei Göttingen
    Die gelöste dankbar freie Stimmung weicht leider einer unklaren Angst. Es geschieht so manches, was ich nie geglaubt hätte. So übernimmt die Redaktion der einzigen Zeitung ein Mann, den nicht wenige Göttinger als in allen politischen Farben schillernd kennen. Er sitzt mit Amerikanern beim Wein, sein Haus wurde nicht beschlagnahmt, während alte Demokraten an die Luft gesetzt wurden. Die Universitätsangelegenheiten scheinen in Händen von Leuten zu liegen, die gelinde gesagt manche politischen Wandlungen durchmachten. Ich würde mich nicht wundern, wenn der alte Dozentenführer wieder auftauchte und erklärte, er sei ja nur der SS beigetreten, um Schlimmeres zu verhüten. So etwas geschieht und wird geglaubt.
    Bei den kleinen Leuten kann man dasselbe erleben. Ein dicker Bäckermeister, der mit lautem «Heil Hitler!» antwortete, wenn ich «Guten Morgen» sagte, erklärte neulich seiner Kundschaft: «Endlich kann ich aufatmen. Jahrelang stand die Gestapo mit dem Revolver hinter mir.» Auch Sophie im Institut, die die «Plutokraten» und Pfaffen» nach dem Endsieg bekämpfen wollte, erklärte: «Wir haben schon daran gedacht, wieder in die Kirche einzutreten.»
    Was geht da vor? Ist das nur die Verwirrung des ersten Augenblicks und bereinigen sich diese Dinge von selbst, oder müssen wir lernen, daß gewisse Leute immer oben schwimmen wie Korken im Wasser? Wir können uns ja gewissermaßen ins Innere zurückziehen und versuchen, mit unserm Leben ein Beispiel zu geben, aber viele Leute sind jetzt schon erbittert, und angesichts offensichtlicher Ungerechtigkeiten gehört auch Charakter dazu, gelassen zu bleiben.
    *
    Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes
    Kindersuchdienst UK –

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