Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Standartenführer Bovensiepen nach Flensburg rufen. Zunächst zeigte ich ihm meine Spezialvollmacht mit Himmlers Unterschrift, die besagte: «Da General Schellenberg auf spezielle Anweisung von mir handelt, sind seine Befehle ohne Fragen zu befolgen.»
Nun erklärte ich Bovensiepen, daß alle KZ-Insassen dänischer und norwegischer Nationalität ohne Ausnahme an Schweden übergeben werden sollten. Ich setzte hinzu, daß ich am nächsten Tage nach Kopenhagen zu fahren beabsichtigte, um die politische Situation Dänemarks mit dem außerordentlichen Minister und Bevollmächtigten in Dänemark, Dr. Best, zu besprechen.
Danach bat ich ihn, Vorbereitungen für diese Zusammenkunft zu treffen. Der Hauptzweck dieser Reise war, alle Todesurteile und deren Vollstreckung sofort abzustoppen.
Mopsa Sternheim 1905–1954
(Ryd/Schweden)
Ravensbrück. Und dann, eines schönen Tages, am 23. April 1945, die schwedischen Busse vor dem Lager. Ganz weisse Lastwagen, mit dem schwedischen Kreuz darauf. Diese wunderbaren Burschen des Schwedischen Roten Kreuzes, die uns mit Zigaretten und Kuchen eindeckten und uns hinaushalfen – die nicht schrien und nicht schubsten. [...]
Und jetzt hier. Folketspark – Volkspark, ein kleiner Erlebnispark für die Einwohner von Ryd, am Ufer eines Sees und umgeben von Wald. [...] Alles eingerichtet, es ist schrecklich hygienisch und fehlt an Träumerischem.
130 Französinnen sind in einem Festsaal zusammengepfercht. Ich bin in einem kleinen Zimmer daneben, zusammen mit vier anderen Kranken. Das Fenster geht zum See. Der See und der Wald sind flach wie das ganze Land, und viel hellblauer Himmel. Ein schöner Himmel, ohne Tiefe und ohne Geheimnisse, ein hygienischer Himmel.
Neben mir vier alte Überlebende. Friedlich, geschwätzig. Und ich mit flatternden Nerven und nicht bei Bewusstsein.
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Adolf Hitler 1889–1945
Berlin/Führerbunker
An Alfred Jodl
Schnellste Durchführung aller Entsatzangriffe in den bisher befohlenen Richtungen ist zwingend notwendig. Die 12. Armee hat auf der LinieBeelitz-Ferch anzutreten und unverzüglich den Angriff in ostwärtiger Richtung bis zur Vereinigung mit 9. Armee fortzusetzen. Die 9. Armee greift auf kürzestem Weg nach Westen an und stellt Verbindung mit der 12. Armee her. Nach Vereinigung der beiden Armeen kommt es darauf an, unter Eindrehen nach Norden die feindlichen Verbände im Südteil von Berlin zu vernichten und eine breite Verbindung mit Berlin herzustellen.
Charles de Gaulle 1890–1970
Paris
Philosophen und Historiker werden sich späterhin über die Motive dieser Verbissenheit streiten, die ein großes Volk zum vollständigen Untergang führt, ein Volk, das zwar schuldig ist und Bestrafung verdient, dessen Vernichtung aber die höhere Vernunft Europas beklagen würde. Was uns betrifft, so können wir im Augenblick nichts anderes tun, als Seite an Seite mit unseren Verbündeten unsere Anstrengungen zu verdoppeln, um sobald und so vollständig wie möglich das Ende herbeizuführen.
Erich Weinert 1890–1953
Moskau
An die Männer und Frauen von Berlin!
Landsleute! Die Stunde hat geschlagen. Das Ende ist da. Nicht das Ende Deutschlands, wie es Hitler und Goebbels euch weismachen wollten, sondern das Ende ihrer Mörder- und Brandstifterherrschaft. Dieses Ende hätte früher kommen können, bevor unsere Heimat zum Kriegsschauplatz wurde. Es lag in euer Hand. Aber ihr habt euch bis fünf Minuten nach zwölf für diese Schurken ins Feuer jagen lassen. Jetzt ist unser Berlin ein Schutthaufen.
Das habt ihr euch nun zwölf Jahre lang bieten lassen. Mit Brandstiftung, Mord und Betrug fing es an. Hitler ließ den Reichstag anzünden und gab damit das Signal zum Krieg gegen die freiheitlichen Kräfte Deutschlands. Berlin wurde überrumpelt, bevor es sich zum Widerstand sammeln konnte. Und Brandstiftung, Mord und Betrug blieben die Mittel, mit denen die Banditen bis zum letzten Tage regierten.
Hitler, das ist der Krieg! war unsere unablässige Warnung, als der Hausknecht des Rüstungskapitals sich anschickte, die Staatsgewalt in seine Hand zu nehmen. Aber Berlin ließ die Dinge an sich herankommen, statt zuzuschlagen. Da war es zu spät. Wer sich den braunen Knechten in den Weg stellte, wurde stumm gemacht. Tausende verließen ihre Heimat, um von draußen den Kampf gegen die Entehrer ihres Vaterlandes zu führen. [...]
Berliner! Der Krieg ist zu Ende. Berlin liegt in Trümmern, aber niemand wird jetzt den Kopf hängen lassen. Auch über Ruinen wird der Mai
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