Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
lebhaftesten Diskussion. Mit den holländischen Zigarren hatten sie anfangs Schwierigkeiten, weil sie sie zusammen mit der weißen Umhüllung zu rauchen versuchten. Von ihnen erfuhr ich zuerst von fahrbaren Vergasungseinrichtungen, die die Nazis im Osten als Massenvernichtungsmittel eingesetzt hatten. Ich nahm ihnen damals ihre Berichte darüber nicht ab. Auf meine Vorhaltungen über Plünderungen, Vergewaltigungen und Mord, den die russischen Truppen nach der Überschreitung der deutschen Grenzen begangen hätten, erklärten sie, daß sie nach der Überschreitung der Oder strengsten Befehl hätten, solche Untaten zu vermeiden. Sollten uns derartige Übergriffe bekannt werden, so sollten wir es ihnen melden. Die Schuldigen würden auf der Stelle erschossen. Ich schloß daraus, daß die Untaten, die die Russen in Ostpreußen, Pommern und Schlesien begangen hatten, ein Teil der ebenso brutalen wie zielgerichteten Politik Stalins war, nämlich durch absichtliches Gewährenlassen die Truppen zum brutalen Verhalten zu animieren, um dadurch die deutsche Bevölkerung zur allgemeinen Flucht zu veranlassen. Unsere Diskussionen dauerten noch lange in die Nacht hinein, bis die Russen auf den Stühlen, in den Sessel, auf den Sofas, auf dem Fußboden, d.h. gerade wo sie sich befanden, einschliefen, ohne uns irgendwie zu stören. Am nächsten Tage in der Frühe waren sie verschwunden, ebenso wie die in den Nachbargärten aufgefahrenen Geschütze.
Der sowjetische Feldchirurg
Wladimir Kowanow *1909
Blankenfelde bei Berlin
Unsere Sanitätsabteilung stand in Blankenfelde vor Berlin. Ganz in der Nähe befand sich ein deutsches Lazarett, das von unserer Truppe schon eingenommen worden war. Mein Chef, Oberst Tarasenko, beauftragte mich, die im Lazarett liegenden Verwundeten zu besichtigen.
«Es kann sein, daß dort unter den Verwundeten sich auch gesunde Faschisten aufhalten, die dann von hinten auf uns schießen», sagte er zu mir. Nach einer halben Stunde kamen wir zum Lazarett. Am Eingangstor stand unser Posten. Der Posten warnte uns: «Eben ist ein Hauptmann von unserem Abschirmdienst angekommen.» So marschierten wir zum Haupteingang. Wir waren noch auf den Stufen des Vorbaus, als drinnenein Schuß fiel, und wir stürzten hastig in die Vorhalle. Uns begegnete unser Hauptmann, sein Arm hing leblos herab. Ich legte ihm mit meinem Taschentuch schnell eine Abschnürbinde an, und der Hauptmann sagte leise: «So ein Idiot! Man müßte ihn auf der Stelle niederknallen, aber ich konnte nicht, dem Kerl sind beide Beine amputiert worden ...» In diesem Augenblick lief ein alter deutscher Militärarzt auf uns zu. Es war der Lazarettsvorsteher. Am ganzen Körper zitternd, bemühte er sich, uns irgendwie aufzuklären, daß seine Patienten nicht gewußt hätten, daß sein Lazarett von den Russen besetzt wurde. So schoß der deutsche Offizier vor Angst aus seiner unter dem Kopfkissen liegenden Pistole auf den russischen Hauptmann, als der die Krankenstube betrat.
Nachdem ich im Operationszimmer des Lazaretts die Wunde des Hauptmanns versorgt hatte, wobei der deutsche Arzt mir assistierte, machten wir einen gemeinsamen Rundgang durch die Krankenzimmer. In jedem Zimmer empfingen uns ein Arzt und eine Krankenschwester, die uns das Allernötigste über ihre Patienten erzählten. Alle waren dabei sehr angestrengt. So besichtigten wir sämtliche Verwundete. Mein Begleiter hielt für alle Fälle unter seinem weißen Kittel eine Pistole schußbereit. Unbefugte Patienten konnten wir dabei nicht entdecken.
Die Hausfrau Emmi Z. *1893
Berlin/Karlshorst
Eine Horde Russen stürmte ins Treppenhaus, und wir mußten alle ran. Auch die kleine Inge, die war gerade 8 Jahre alt, auf den Knien habe ich vor den Soldaten gelegen, es nützte nichts.
Später mußten wir für sie kochen, die nahmen die Sauciere quer.
Lagebesprechung
Berlin/Führerbunker
Hitler: Es kann dazu kommen, daß die Isolationisten sagen: Amerikanische Boys dürfen nur für amerikanische Interessen kämpfen. Warum sollen die Amerikaner sterben für nicht-amerikanische Zwecke. In all den Ländern ist überhaupt keine Demokratie, z. B. Rumänien, Bulgarien, Finnland. Die Amerikaner ziehen sich hier wieder zurück und werfen sich allein auf Ostasien und binden dadurch zugleich den Russen hier, weil sie uns frei machen, so daß sich der Russe drüben in Ostasien nicht so einsetzen kann.
*
Walter Schellenberg 1910–1952
(Flensburg)
Am folgenden Tag, es war der 25. April, ließ ich
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