Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
beinahe keiner Gruppe mehr zuzuordnen. Sogar in den Jahren des Protektorates sind Gehässigkeiten und Überheblichkeiten der Sudetendeutschen niemals aufgekommen. Daß sich die Deutschen aus dem Reich, die nie ein Grenzlandschicksal gekannt haben, in diese Situation nicht einfühlen konnten und mehr Unruhe als gute Werte einbrachten – ist das unsere Schuld?
Wie dem nun auch sei – wir Deutschen sind zum Freiwild geworden. Als ich [meine Freundinnen] gestern besuchen wollte, sagten mir ihre Mitbewohner, daß sie am Tag vorher Selbstmord begangen hätten. Sie hatten sich, nach einem verhinderten Gift-Selbstmord, in ihrer Wohnung erhängt. Es war so erschütternd für mich, daß zwei so geistvolle, mütterliche, tolerante Menschen auf so unwürdige Weise ihren Tod gesucht haben.
Der Soldat Harald Simon *1927
(Mähren – Prag)
Der Monat April näherte sich seinem Ende. Nirgendwo sah ich keimende Saat, auch keinen Vogel, keine Katze noch anderes Getier. Es schien, daß auch die Tiere geflüchtet waren.
Wieder hatten wir nachts eine Stellung geräumt. Müde und dreckig erreichtenwir einen Ort. Ich sah ein Schild: «Ruederswalde». Irgendwo in Mähren.
Wir besetzten einen Schützengraben am Ortsrand. Unterstützt von Artillerie, Panzern und den besonders gefürchteten, unglaublich langsam fliegenden gepanzerten Schlachtfliegern vom Typ «Iljuschin 2» griff die russische Infanterie an. Aus den feuernden Bordkanonen der Schlachtflieger züngelten lange rote Flammen. Von einem makellos blauen Himmel schien die Sonne auf dieses Inferno.
Das Geschoß traf mein Gesicht. Mich umgab plötzlich totale Finsternis. Jemand schrie durch den Gefechtslärm, ich solle mich festhalten. Er führte meine Hand. Ich fühlte ein Koppel. Später lag ich rücklings auf einem Karren, und meine Füße schleiften über den Boden. Irgendwann bekam ich Injektionen. Dann war ich in einem Zug. Später zog mir jemand die dreckige Uniform aus. Ich spürte warmes Wasser, dann ein Bett. Um mich her war es immmer noch finster. Ich fragte, was mit meinen Augen sei. Eine Schwester sagte, das linke Auge sei zerstört, aber das rechte sei noch vorhanden und könne ganz sicher von einem Augenarzt in Ordnung gebracht werden. Gott sei Dank, die Dunkelheit war nur vorübergehend. Ich sehnte mich nach einem Augenarzt. Hier gab es keinen. Die Ärzte waren bis auf einen Zahnarzt geflüchtet. Dieser bemühte sich vergeblich, meine Kiefernklemme zu beheben. Jeden Tag zog mir eine Schwester Knochensplitter aus dem Gesicht. Bei einer Zuteilung von Rauchwaren erhielt ich achtzig Zigaretten. Obwohl ich nicht rauchen konnte, freute ich mich über diesen unglaublichen Reichtum und tastete immer wieder nach den vier Päckchen auf meinem Nachttisch. Eines Tages waren sie nicht mehr da und blieben verschwunden. Das machte mir deutlich, daß Wehrlosigkeit für moralisch schwache Menschen eine Versuchung darstellt, weil sie ermöglicht, risikolos Böses zu tun.
Der Waffen-SS-Mann Manfred Klein *1926
Slowenien
Am 30. April wurde das Regiment, wahrscheinlich sogar die ganze Division, aus der HKL herausgenommen. Der Regimentsstab verlegte nach Gnas, fünf Kilometer westlich von Bad Gleichenberg. Wir bezogen mit der Funkstelle die Schule des Ortes, am Marktplatz gelegen. Am nächsten Tag war ein Angehöriger des Regiments, der desertiert war, wieder aufgegriffen worden. Das Divisions-Standgericht verhängte sofort die Strafe: Tod durch Erhängen. Das Urteil sollte einen Tag später vollstreckt werden. Zur vorgesehenen Zeit, etwa 13 Uhr, marschierte das Regiment am Marktplatz auf. Ein Galgen war bereits errichtet. Es gab aber irgendeineVerzögerung, das Regiment zog wieder geschlossen ab und durfte erst einmal einen Film ansehen. Nach Beendigung des Filmvortrags kam die Truppe wieder zum Marktplatz zurück. Wir Funker mußten nicht mit antreten, sahen aber aus den Fenstern unserer im ersten Stock gelegenen Funkstelle zu. Der Delinquent, die Hände auf dem Rücken gefesselt, mußte einen kleinen Handwagen besteigen, der unter dem Galgen stand. Als ihm die Schlinge um den Hals gelegt war, trat der Divisions-Gerichtsoffizier vor, verlas das Urteil und fragte den Verurteilten, ob er noch etwas sagen wolle. Der reagierte nicht, darauf nach kurzem Warten, der Gerichtsoffizier: «Wer den Tod in Ehren fürchtet, stirbt ihn in Schande.» Der Handwagen wurde weggezogen, der Hinzurichtende hing jetzt am Strick, aber kaum tiefer als vorher, da er auf dem Wägelchen stand. Er starb einen
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