Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
draußen tüchtig. Vorhin habe ich solche Angst gehabt. Wenn nur schon alles vorbei wäre! Dabei müssen wir noch dankbar sein, daß in den Sudetengau doch die Amerikaner und nicht, wie befürchtet, die Russen kommen. Wir haben nur noch eine Hoffnung. Unsre jetzigen Feinde, die Westmächte, werden nicht zusehen, wie ganz Europa bolschewistisch wird. Gemeinsam müssen wir gegen den Bolschewismus gehen. Alles andere muß in den Hintergrund. Wir Deutschen haben lange für Europa auf Vorposten gestanden. Wir schaffen es nicht mehr. Bei uns ist alles in Auflösung begriffen. Die Soldaten und die Mädel wollen nur noch intensiv leben.
Viele Offiziere nehmen ihre Charge und ihren Rang nicht ernst genug.
Alles ist ungeordnet und kopflos. Das sind die typischen Zeichen des Verfalls. Der Widerstandswille des Volkes ist gebrochen. Wir sind der Übermacht erlegen. In Berlin sind schwere Straßenkämpfe. Der Führer steht ganz allein da. Wir zittern um sein Leben.
Der Duce ist mit 17 Anhängern von italienischen Partisanen ermordet worden. Entsetzlich! Die großen Menschen gehen jetzt alle unter. Von der Gegenseite ist der größte Kriegshetzer Roosevelt tot. Ist das nicht fast ein Wunder? Der neue Ministerpräsident Truman (Harry) ist sicher nicht zu schlimm. Vielleicht kommt es mit seiner Hilfe bald zu dem Opfergang der weißen Rasse gegen die gelbe Rasse. Diese unvermeidbare Auseinandersetzung ist schneller nahe gerückt als man [Text bricht hier ab.]
Alisah Shek *1927
KZ Theresienstadt
Österreichische Regierung, Soz. Dem. 6, Kommunisten 3, Bürgerliche 2, Christlich Soziale 2, Präsident – Renner.
Und wir? Wir warten 6 unendliche, unerträgliche Jahre auf diesen Augenblick. Und jetzt ist es alles so abgeschabt und hat den Glorienschein verloren, denn es ist alles so überflüssig und umsonst. Alles dreht sich im Kreis. Die uns vernichtet haben, retteten den letzten Rest und wollen noch gefeiert werden. Alles, alles ist so umsonst. Wir sitzen da und sehen: das Ärgste, was sie uns angetan haben, ist, sie haben uns des Wirklichen beraubt, des Begriffes von Wirklichkeit. Wir kennen eine qualvolle, schreckenerfüllte Welt von Grausamkeit, wo wir Dinge des Geschehens sind, Objekte. Und Träume. Und was dazwischen liegt, das einzig Fähige, Wirklichkeit zu sein und gelebt zu werden, ist Finsternis. Sie banden unsere Augen zu, so lange, und jetzt sind wir blind. Wir zerschellen im ewigen Flug zwischen Traum und Grausamkeit an den Felsen des Wirklichen, das in ewige Nacht eingehüllt ist. Es ist für alles zu spät. Was bleibt noch, etwas was Sinn hat in all diesem Sinnlosen? Die Dinge offenbaren sich alle in ihrer Sinnlosigkeit. Und das gerade jetzt, wo wir zu leben hofften, nach einem endlosen Dahinsterben, zwischen unserem 12. und 18. Lebensjahr.
Erich Kessler
KZ Theresienstadt
Habe seit gestern Nachmittag Durchfall und daher den ganzen Tag, außer altem Brot, nichts gegessen. Nachmittag war mir nicht gut, und ich habe daher meinen Dienst nicht angetreten.
*
Annemarie Hedinger
Brünn/Mähren
Seit drei Tagen ist es jetzt klar. Die Russen bleiben, die Tschechen haben die Oberhand, und es gibt zwischen diesen beiden Siegern arge Streitigkeiten. Die Tschechen haben die Illusion, daß sie nun Herren im Haus sind. Ihre Schikanen uns Deutschen gegenüber sind vielgestaltig, anmaßend. Die Russen ärgert das, denn wären sie es nicht gewesen, die den Sieg über die Deutschen errungen hätten, wäre die Tschechoslowakei immer im Schatten geblieben, denn – so sagen die Russen, vom kleinen Mann bis zum Offizier, verärgert – was haben diese Leute schon zu ihrer Befreiung getan? Sie haben alles geduldet, sie haben besser gelebt als die Deutschen, sie haben keine Opfer gebracht und wollen nun die Herren spielen. Aber das läßt sich nicht ändern, und die gemeinsamen Beschlüsse sind fadenscheinig und werden von den Tschechen radikaler aufgefaßt und ausgeführt, als sie von den Siegermächten gemeint waren. Man ist sich im tschechischen Lager einig, daß man uns demütigen muß und uns zum Schluß loswerden will. Jahrhundertelang lebten wir nebeneinander, friedlich, wenn auch kritisch. Die Deutschen waren die Kulturträger und haben Wirtschaft und Industrie aufgebaut und gut geführt. Tschechen, die sich dem Aufbau und der Verwaltung gegenüber positiv verhalten haben, bekamen leitende Stellen; es wurde ihnen ihr Volkstum nie streitig gemacht, im Gegenteil, vieles an Kulturgut hat sich gemischt, verwischt und ist heute
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