Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
qualvollen Tod. Er hat noch sehr lange seine Beine hochgezogen, er wurde regelrecht stranguliert und ist am Galgen erstickt. Es wurde ihm noch ein Schild umgehängt mit der Aufschrift: «Ich bin ein Volksverräter. Ich habe die verdiente Strafe erhalten.»
In der Nacht beobachtete ich einige Offiziere, die betrunken aus der Gaststätte gekommen waren. Sie gingen auf den Galgen zu, einer von ihnen stieß mit seinem Stock den Gehenkten seitlich an, worauf dieser sich um sich selbst drehte. Den Betrunkenen war dies ein großes Vergnügen, sie lachten hellauf.
*
Der britische Captain B.R. Cowles
Bologna
Am Nachmittag organisierte ich eine Rattenjagd, die recht gut ablief. Zwei Ratten wurden gefangen. Spielte später für die Truppe Cricket, und danach aßen wir uns fast krank an einem riesigen Haufen frisch gepflückter Erdbeeren. Die italienische Sorte ist sehr klein, aber der Geschmack ist in Ordnung. Beendete den Tag beim Kartenspiel in der Messe. Bin nicht sehr scharf darauf, aber scheine im Augenblick nicht in der Lage zu sein, mich hinzusetzen, um etwas Ernsthaftes zu lesen wie meine «Maths for the Million». Im Regimentsstab sind sie gerade dabei, Gruppen für die Entlassung zusammenzustellen. So verliert man das Interesse am Armeeleben, weil es jetzt nur noch eine kurze Zeit dauern wird.
Der US-Soldat Benedict S. Alper *1905
Rom
An seine Frau
Dear sweet E-
Du willst mir erzählen, daß die Leute noch immer zur Armee gehen? Unwahrscheinlich – hier denken wir alle nur daran, wann wir endlich nach Hause kommen, es sind jetzt die letzten Stunden. Gut mit Musso – verurteilt und hingerichtet durch die Hände derer, die er verraten hat. Ich mag es, wie sie die Dinge hier erledigen: Eine Industriegesellschaft ist es gewohnt, kooperativ und in disziplinierter Weise zu arbeiten. Jetzt, da es so nahe bevorsteht, kann es nicht mehr lange dauern, bis wir beieinander sind, Darling. Am Ende hat sich alles gelohnt, was vorher war, irgendwie – aller Kummer und Einsamkeit und Schuldgefühle und Sorge – es ist plötzlich der Mühe wert, wie Genesung nach Krankheit. Die Welt lebt und die meisten Leute in ihr, trotz der Millionen, die gestorben sind, damit wir leben können.
Wir beide haben miteinander viel Zeit verloren, my Sweet, Aussicht auf Liebe, aber nicht nur Liebe selbst, auch etwas anderes, falls es noch etwas Stärkeres gibt. Sicherlich werden wir uns niemals mehr als selbstverständlich hinnehmen, und ich verspreche, niemals mehr rücksichtslos zu sein oder ärgerlich oder irgend etwas von dem albernen Zeug, mit dem ich mir sooft seitdem selbst geschadet habe.
Ich liebe Dich, und wir gehören für immer zusammen – Bups.
Der sowjetische Offizier
Boris Martschenko *1904
(Österreich)
An seine Frau
Gestern bin ich aus Wien zurückgekommen. Ich bin viel herumgefahren und habe vieles gesehen, aber einen solchen Ort habe ich noch nicht zu Gesicht bekommen. Das ist keine Stadt, sondern einfach ein Traum. Budapest ist im Vergleich zu Wien ein Dreck. Es ist interessant, daß du in eine beliebige Richtung gehen kannst, und überall wirst du auf Ecken stoßen, die noch schöner sind als die, die du zuvor gesehen hast. Übrigens mußte ich eine bestimmte Einheit suchen. Man sagte mir, sie sei im Hof des österreichischen Palastes. Da bin ich also hingegangen. Das läßt sich nicht beschreiben. Denjenigen, den ich treffen sollte, habe ich nicht angetroffen, aber man sagte mir, daß es da einen kaiserlichen Keller gebe mit viel Wein darin. Da bin ich hin. Ich bin so etwa anderthalb Kilometer unter der Erde gelaufen und dann endlich ans Ziel gekommen. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Zusammen mit dem Fahrer habe ich so viele Flaschen von einem Wein, der über 15 Jahre alt ist, mitgenommen,wie in den Wagen paßten. Im Grunde kann man das gar nicht Wein nennen, es ist einfach etwas ganz Außergewöhnliches. Das müßtet Ihr Schluckspechte mal probieren.
Ich war auch im Opernhaus. Der hintere Teil ist abgebrannt, aber trotzdem ist es ein bemerkenswertes Gebäude. Mit einem Wort: Von Wien bin ich begeistert. Wer hätte gedacht, daß ich da mal hinkomme. Ach ja, ich habe vergessen zu sagen, daß es in Wien so ist wie bei uns in der Heimat an Feiertagen. Aus den Fenstern ragen rote Flaggen. Die Menschen sind sehr zuvorkommend, wenn du jemanden nach dem Weg fragst, sammelt sich gleich eine Gruppe von 5–10 Leuten an, und die versuchen, sich gegenseitig in Hilfsbereitschaft zu übertrumpfen. Sie reden deutsch und
Weitere Kostenlose Bücher