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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Muttersprache.
    Die Reise geht weiter unter dem Begeisterungssturm der Bevölkerung, die das Gespenst des Krieges davonziehen sieht. Gegen 10 Uhr morgens, am 8. Mai, fährt unser Zug über die französische Grenze. Erster französischer Bahnhof Givet, liebe kleine Stadt in der Heimat, Sinnbild für das Vaterland, in das wir heimkehren. Man muß gelitten haben wie wir, weit weg von der französischen Erde, um zu verstehen, wie sehr man ihr verbunden ist. Klosterschwestern kommen eilig und dann Helfer vom Roten Kreuz mit Milch und Fleischbrühe. Entscheidend ist vor allem die große moralische Genugtuung: Frankreich hat uns nicht vergessen.
    Am frühen Nachmittag sind wir in Charleville; die Verwaltungsformalitäten für unsere Rückkehr nach Frankreich werden erledigt. Schon eine kleine Aufmerksamkeit: Die Deportierten werden bevorzugt abgefertigt.Ich weise die militärische Sicherheitspolizei auf eine Deutsche hin, die sich unter falschem Namen nach Frankreich einschmuggeln will.
    Flora Neumann *1911
Transport nach Belgien
    Man brachte uns in ein französisches Kriegsgefangenenlager. Wir sahen beide so krank und abgemagert aus. Wir hörten Schüsse und meinten, es seien die Deutschen, aber es waren diesmal Freudenschüsse: Der Krieg war zu Ende! Die Deutschen hatten kapituliert. Wir umarmten uns, keiner konnte es fassen. Mit anderen Kriegsgefangenen wurden wir per Eisenbahn nach Belgien gebracht. Nun meinte ich durchzudrehen, denn die Eisenbahnschienen hämmerten während der Fahrt in meinem Kopf: «Lebt Berni?» Ich konnte einfach nicht mehr abschalten. In Auschwitz konnte ich nicht weinen. Nun, nach der Befreiung, verlor ich die Nerven. Nora versuchte mich zu beruhigen.
    Bevor wir über die Grenze nach Belgien kamen, gab man uns wieder eine Spritze. Man hatte wohl Angst, daß wir Krankheiten übertragen könnten.
    *
    Der Archivar Chobaut
Avignon/Frankreich
    Offizieller Victory Day. [...] Natürlich waren der gestrige Abend und der heutige Tag eine einzige Sauferei. Wie kleinlich waren wir doch in unseren Handlungen, Gesten und Gedanken angesichts eines so großen Ereignisses. Ich habe geweint und es schmerzte mich, nicht beten zu können. Aber die Freude war nicht so spontan und zügellos wie 1918, und bei der Befreiung am 25. August 1944 war mehr Freude zu sehen. Die Menschen sind es überdrüssig, so viel und so lange zu leiden.
    Der Ingenieur Ferdinand Picard
Paris
    Wir sind heute eingetaucht in die Pariser Menschenmenge, die trunken ist von Siegesfreude. Vom Saint-Lazare-Bahnhof bis zum Platz der Republik sind wir dem Strom der Menschen gefolgt, der auf der ganzen Breite des mit den alliierten Farben geschmückten Boulevards dahin- floß. Unvergleichliches Schauspiel, wo eine ganze Volksmenge in einem einzigen Elan der Erleichterung und der Befreiung kommunizierte. Alle Generationen mischten sich in dieser Flut, die unaufhörlich von den Menschenmengen der Vorstädte verstärkt wurde. Frauen trugen ganz kleine Babys im Arm, die sie manchmal hochhoben, um sie den alliierten Soldaten zu zeigen. Weißhaarige alte Männer, die von fünfJahren Entbehrung abgemagert waren, fanden die Begeisterung ihrer jungen Jahre wieder. Ältere Frauen mit seltsamen Hüten im Stil von vor zwanzig Jahren drängten sich auf den Kantsteinen der Bürgersteige, um ihre Freude zu zeigen. Die jungen Burschen und Mädchen in bunter Kleidung mit in die Haare gesteckten blau-weiß-roten Bändern und Kokarden drängten sich in den amerikanischen Jeeps und Lastwagen. Sie schrien und waren außer sich vor Freude. Alliierte Soldaten aller Waffengattungen und aller Nationen fügten dem Ganzen die Vielfalt von Farben und Formen hinzu: das Khaki und Beige der Amerikaner, das Graublau der R.A. F., das Blauschwarz der Marine, der Feldmützen und Helme der GI, die beigen Baskenmützen der Briten, die kecken Mützen der jungen Amerikanerinnen, die Käppis und Mützen der französischen Offiziere. Sie mischten auch ihre Freude und ihre Gesänge in das unbestimmte Stimmengewirr dieser menschlichen Meeresströmung. Dieses beruhigte sich gelegentlich, damit man hören konnte, was einzelne riefen oder was an Militärmusik aus den in den Bäumen aufgehängten Lautsprechern herauskam. Auf dem Boulevard Haussmann hatten die vom Whisky animierten Briten vor ihrer Hoteltür aus Spaß Autos angehalten. Dabei erhoben sie die Arme, die mit den Binden der Organisation Todt versehen waren, zum Hitlergruß. In einem Schaufenster des Boulevard Poissonnière baumelten

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