Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Nacht vom 8.–9. Mai 1945 im Gefangenenlager Rennes/Frankreich Bei Dunkelwerden werden wir in unserem Zelt aufgeschreckt durch ungewohnten Jubel – «Siegestaumel» der Amis aller Grade, aber nicht allein dieser, sondern auch deren «Satelliten», ihren «Hilfstruppen» auf den Wachttürmen, den polnischen Wachmannschaften, und über der Großstadt Rennes gibt es ein großes Feuerwerk, Raketen zischen hoch, bengalisches Licht läßt ganze Häuserblocks erstrahlen. Durch Zurufe hören wir: Sie feiern die Kapitulation Deutschlands, ihren großen Sieg. Als wir vor das Zelt treten wollen, fallen von den Wachttürmen Schüsse, die in der Nähe auf den Wegen zwischen den Zelten einschlagen: Die johlenden, betrunkenen polnischen Posten machen Scheibenschießen auf die verhaßten «Nemietzki». Wer von uns sich vor dem Zelt oder auf der Latrine sehen läßt, wird durch Schreckschüsse von oben gewarnt – getroffen wird keiner! Wir fassen uns an den Kopf: die Amis, die Engländer, ja, die haben ihren Kopf hingehalten, haben Grund zum Feiern. Aber die Franzosen ?? Als Sieger ? 1813 – 1870 – 1918 – 1940: Eine Niederlage nach der andern. Sowas von Gedächtnisschwund?! Nach der beschämenden vollständigen Niederlage in 6 Wochen im Mai/Juni 1940, dem Waffenstillstand? Und jetzt Sieger macht?
Ulrich Maier *1927
Kriegsgefangenenlager Orléans
8.5. 1945. Arg übel. Kann mich kaum mehr für kurze Zeit auf den Beinen halten. Im Revier 2 Tabletten und ein Stück Holz bekommen, soll mir Holzkohle draus brennen und einnehmen. Mehr hätten sie auch nicht. Und noch einen Tag fasten.
Wie sollte ich mir Holzkohle brennen, wo doch jegliches Feuer im Lager verboten war?! Ich schmiß das Stückle Besenstiel in die nächste Ecke und erreichte, zuletzt nur noch auf allen vieren kriechend, meine Lagerstatt, wo mir ein heftiger Weinkrampf etwas Erleichterung brachte. Ich wog gerade noch 99 Pfund, ein Gewicht, das ich in der Folgezeit lang nicht mehr überschritten habe. Die Krankheit, an der wir fast alle litten, nannten sie allgemein Dy senterie.
*
Ein Unbekannter
Reigate
Heute ist der Tag des Sieges. Er wurde gestern abend in den 21.00-Uhr-Nachrichten verkündet. Wir gingen zu Bett, und ich schlief bei zurückgezogenen Vorhängen. Ich kann nicht sagen, warum, aber irgendwie schien das den Beginn des Friedens zu symbolisieren.
Es war ein wunderschöner Maimorgen, und sie riefen mich von der Schule aus an, um mir mitzuteilen, daß ein Vikar aus einer der Dorking-Kirchen um 10.00 Uhr einen Gottesdienst abhalten würde. So beeilte ich mich und versuchte, einen frühen Bus zu bekommen.
Als ich in Dorking ankam, war es schon nach 10 Uhr. Ich rannte den Hügel hinauf, aber als ich in die Kirche ging, wurde der Gottesdienst gerade mit einem Gebet und den drei Strophen von «God save the King» beendet. Weil ich kein Gesangsbuch hatte, konnte ich nur die erste Strophe mitsingen, die zweite und dritte mußte ich summen!
Ich glaube, ich vergaß zu berichten, daß die Blaumeisen am vergangenen Sonntag anfingen, ihr Nest in dem neuen Kasten zu bauen, den ich anstelle des alten in der vorigen Woche für sie aufstellte. Ich denke, sie fühlen sich darin wohl. Und ich hoffe, sie bereiten darin auch eine lange Zeit von ungetrübtem Frieden vor!!
So viele Menschen haben gesagt: «Jeder sollte hingehen und sich die Filme über die Schrecken in den Konzentrationslagern ansehen.» Aber ich kann nicht umhin, zu denken, daß viele dieser Leute ein krankhaftes Interesse (ich möchte nicht Vergnügen sagen) daran haben und daß das für Menschen mit Vorstellungsvermögen völlig überflüssig ist.
Mrs. B. Hubbard
West Sussex
Das Rundfunkprogramm brachte mir die Ereignisse + Stimmungen des VE-Tags nach Hause durch die Beschreibung der Massen in London + die Übertragung ihrer Jubelrufe: Vor dem Buckingham Palast + inWhitehall. Hier, in unserer friedlichen Heimat, ist der Krieg schon seit 18 Monaten vorbei. Es fällt zuerst schwer, es zu «begreifen».
Die Robinsons haben ein erschreckend ehrgeiziges Arrangement von Fähnchen vor ihrem Haus aufgehängt: Mrs. R. lenkte meine Aufmerksamkeit sehr schüchtern darauf und sagte, sie hätten es seit der Krönung aufbewahrt + «es mußte gebügelt werden».
Hendley hißte zwei Flaggen auf seinem Fahnenmast, den Union Jack + die vom Goodwood Golf Club. Unglücklicherweise ist es seit mittags windstill + warm, daher hängen die Flaggen schlaff herunter.
Zwischen Hillmanns + Gibbons Häusern hängt eine
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