Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Puppen von Hitler und Pétain. Mit Hupkonzerten bahnten sich die mit Fahnen schwingender, schreiender Jugend befrachteten Jeeps und Lastwagen einen Weg auf der Straßenmitte direkt durch die Menschenmenge, die die Lieder im Chor aufnahm.
Bewegendes Bild der Freude von einem ganzen Volk, das sich für einen Tag gehen läßt. Und dennoch habe ich in den Äußerungen dieses Massenfestes nicht die Begeisterung vom 11. November 1918 und vom 14. Juli 1919 wiedergefunden. Ich erinnere mich an diese Art Rausch, der in jenen Tagen das Volk von Paris erfaßte. Es öffnete mit Gewalt die Tore zu den Invalides, bemächtigte sich der erbeuteten Kanonen, um sie durch die Hauptstadt zu ziehen. Die Ereignisse dieser letzten zwanzig Jahre, die gebrochenen Versprechen, die enttäuschten Hoffnungen haben den Franzosen die für sie sprichwörtliche Leichtigkeit genommen. Alle diejenigen, die heute von den Vorstädten heruntergestiegen waren, um den Sieg der alliierten Armeen und das Ende der barbarischen Herrschaft zu feiern, bewahrten im Inneren ihrer Freude die Erinnerung an alle die Enttäuschungen der Vergangenheit und die Furcht vor den Schwierigkeiten der Zukunft. 1918 feierten die Pariser nicht nur das Ende des Krieges, sondern auch dessen, was sie für den letzten aller Kriegehielten. Heute gibt sich keiner mehr dieser Illusion hin. Alle sind sich darüber im Klaren, daß die bevorstehenden Zeiten hart und voller Bedrohungen sein werden, daß wir kämpfen müssen, um nicht nur den Frieden, sondern auch unseren Platz unter den großen Nationen zu bewahren.
Da ist kein Idealist mehr, der vom allgemeinen Glück und vom ewigen Frieden spricht. Die schwierigen Verhandlungen von San Francisco, der unaufhörlich zu Tage tretende Gegensatz zwischen russischem und amerikanischem Imperialismus, die Herablassung, mit der wir sowohl in Moskau als auch in Washington und London behandelt wurden, haben sehr viele Illusionen beiseite geschoben, die uns noch während der schönen Tage der Befreiung in Paris teuer waren. Wir stehen aufrecht, aber der Weg vor uns ist sehr mühevoll und die Aufgaben, die uns erwarten, sind schwer: der Wiederaufbau der Armee, die Wiederherstellung der seit einem Vierteljahrhundert von den politischen und religiösen Zwistigkeiten zerrütteten Einheit, der Aufbau der zerstörten Städte und Dörfer, die Modernisierung unserer veralteten Wirtschaftsformen, Zurückdrängung des Egoismus, der trügerischen Stimmen vom leichten Leben. Niemand glaubt mehr an die alten Albernheiten, die 1918 unsere Besorgnisse beschwichtigt haben: «Der Boche wird zahlen!» – «Die Alliierten für immer vereint» – «Recht und Freiheit werden die Gerechtigkeit auf einer befriedeten Welt bestimmen.» Die Menge, die heute die Boulevards von Paris schmückt, zeigte ihre Freude über die Kapitulation von Reims. Aber sie tat es mit Maß, ohne Überschwang und ohne falsche Hoffnungen, wie ein Volk, das durch die harten Lektionen von Erfahrung und Vernunft gereift ist.
Claude Simon *1913
(Paris)
Während die Befreiung von Paris im August 1944 der Anlaß für überschäumende (und mitunter schamlose) Freudenkundgebungen war, blieb der 8. Mai 1945 seltsamerweise fast ein Tag wie alle anderen. [...] Ich erinnere mich, daß ich am Abend meine Wohnung in der Absicht verlassen habe, an irgendeiner Bekundung der Erleichterung, des Sieges, teilzunehmen; doch die immer noch unbeleuchteten Straßen von Paris waren leer und still. Ich ging weiter in Richtung Zentrum mit dem Gedanken, daß sich vielleicht dort etwas mehr oder weniger Spektakuläres abspielen werde. Ich war nicht der einzige: Die Rue de Rivoli, auf der Höhe der Tuilerien, war voller Menschen, die, wie ich, aufs Geratewohl durch die Dunkelheit liefen, in einer Art Verwirrung, schweigend, ohne einen Ruf oder Gesang, als lasse das Ende dieses entsetzlichen Krieges,an dem die Franzosen, wie ihnen trotz so lächerlicher Proklamationen wie «Paris und Frankreich haben sich selbst befreit!!» durchaus bewußt war, einen so kleinen und schlechten Anteil hatten, sie orientierungslos, unsicher und ratlos vor den bevorstehenden Problemen. Es war verblüffend, gespenstisch und finster, als laste auf dieser Menschenmenge unsichtbar das Gewicht von Millionen Toten.
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Ekkehard Wagler *1925
Kriegsgefangenenlager Rennes
Siegesfeier d. Alliierten.
Exegese fortgefahren, Matth.; Abendandacht Joh. 2,12-21. «Nietzsche-Vortrag» v. Schütting
Alexander Kern *1911
Kriegsgefangenenlager Rennes
Die
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