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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Selbst dann erwies sich der glänzende Sonnenstrahl des Sieges als eine Illusion der Völker des Westens.
    Der Diplomat
    George F. Kennan *1904
(Moskau)
    Daß das Ende des Krieges in Europa mich in besondere Hochstimmung versetzt hätte, ist mir nicht erinnerlich. Genau wie alle andern war ich froh darüber, daß das Blutvergießen und die Zerstörungen aufhörten. Daß es notwendig sei, den deutschen Nazismus restlos zu vernichten, hatte ich nie bezweifelt. Aber die Umstände, unter denen der Krieg zu Ende ging, waren wenig tröstlich. Wie bereits gesagt, war mir völlig klar, daß eine Drei-Mächte-Zusammenarbeit bei der Regierung Deutschlands nicht funktionieren würde. Aber wir Amerikaner bauten unserePläne nach wie vor auf solchen Träumen auf. Realistische Pläne hatten wir nicht, und auch mit den Briten hatten wir uns nicht hinlänglich über eine konstruktive Neuordnung in den Westzonen verständigt, die, wie mir schien, das einzige Mittel war, den politischen Druck aufzufangen, dessen man von seiten der deutschen Kommunisten, mit Unterstützung der Sowjets, gewärtig sein mußte. Mittlerweile erreichte uns eine deprimierende Vielzahl von Berichten über die wilden Roheiten und Scheußlichkeiten, die ein Teil der sowjetischen Truppen – wohl nicht so sehr die Kampftruppen selbst, sondern mehr die nachrückenden Verbände – beim Einzug in Deutschland und in die von den Deutschen befreiten Gebieten verübten. Manchmal waren es anständige Angehörige der sowjetischen Streitkräfte selbst, die davon erzählten und sich von dem Benehmen ihrer Kameraden angewidert zeigten. War das, fragte ich mich, die Sorte Sieg, die wir erträumt hatten? Machte nicht der hohe Preis einen großen Teil des Sieges fragwürdig?
    Alfred Kantorowicz 1899–1979
New York
    Seit heute ist das Überfällige amtlich. Ich habe mir die Nachtschicht gewählt, meine jungen Reporter zu den Siegesfeiern in den Straßen New Yorks gehen lassen und bin mit meinem Schreibheft allein in dem Abhörraum des Newsroom. Es ist gut, heute allein zu sein. Das also liegt hinter uns. Immerhin zwölf Jahre. Zwölf Jahre, die die Verbrechen von tausend Jahren angehäuft haben. Ich versuche mir eine Vorstellung davon zu machen, wie es jetzt da drüben aussieht, aber ich weiß, daß jede Vorstellung vor der millionenfältigen Wirklichkeit versagen muß. Noch wage ich nicht weiterzudenken. Von irgendwoher wird Beethovens Fünfte gesendet. Die Hymne des Sieges!? Es gibt keinen Sieg. Es gibt am Ende dieses Krieges nur Besiegte.
    Elsbeth Weichmann 1900 –1988
(New York)
    Der Krieg ist aus.
    Es war ein warmer Maientag. Ich stand am Times Square, als die Lichtbuchstaben am Hause der New York Times die Nachricht von der Gesamtkapitulation der Deutschen in die dichte Menschenmenge hineinstrahlten. Lauter Jubel brach los. Ich hörte ihn kaum. Mit zitternden Knien setzte ich mich in das nächste Café. Die Spannung machte der Gewißheit Platz, daß von heute ab ein neuer Lebensabschnitt für die Welt und wahrscheinlich auch für uns begonnen hatte, der jahrelang herbeigesehnt und nun möglich geworden war. Mit welchen Schrecken der Zerstörung würde er beginnen, welche Wiederaufbaukräfte würden gewecktwerden und welche Enttäuschungen würden all die vielen, nun aufkommenden Hoffnungen wieder zerschlagen?
    Am Abend, nach der Arbeit, trugen wir unsere Unruhe hinaus, auf den Broadway, in das laute Menschengetümmel, in Jubel und Rausch. Visionen einer zerstörten und wieder aufzubauenden Welt trieben uns viele Male den Broadway hinauf und hinunter. Die Zeichen standen nicht eben günstig. Die Rote Armee stand in Berlin, der begabte Taktiker, die große Führungskraft der westlichen Welt, Roosevelt, war gestorben, die Wirtschaft aller kriegführenden Länder war ausgeblutet. Welche Kräfte, welcher Aufbauwille, welche Machtverhältnisse würden nun in Bewegung gesetzt werden?
    *
    Eine Rundfunksendung
Paris
    Reportage aus Paris vom Ende des Krieges in Europa 8' Sirene/Glockengeläut 3'25 Hurra-Rufe /Reportage (frz.) vom Platz de la Madeleine
    Marseillaise (von der Volksmenge gesungen)
    Hochrufe, u.a. «Vive de Gaulle»
    Aimé Bonifas *1920
Transport durch Frankreich
    Mitternacht fahren wir im Bahnhof von Maastricht ein. Während man uns heiße Fleischbrühe reicht, füllt eine Gruppe junger Burschen und Mädchen den Bahnsteig, und sie tanzen eine Farandole. Keiner schläft, als wir in Belgien einfahren. Liège und Namur im Flaggenschmuck begrüßen uns in unserer

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