Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Törtchen) und nachdem ich mich am Aufräumen beteiligt hatte, reinigte ich die Kirche, Messing usw. Ich war froh, daß ich während des Siegesgeläuts auf diese Weise danksagen konnte. H. ging heute abend zum Dankgottesdienst, während ich mich zu U. setzte. Sie berichtete, daß die Kirche unerwartet voll war, ein Organist war in letzter Minute gefunden worden, und der als einfach geplante Gottesdienst wurde etwas umfangreicher. Wir konnten die Kichenglocken läuten hören, während wir dem Dankgottesdienst im Radio lauschten. Die Ansprache des Erzbischofs war nicht gerade aufregend. Nachdem ich zu Bett gegangen war, gab ein Alarmhorn, das zur Warnung bei Bombenangriffen benutzt worden war, das Zeichen zum Entzünden des örtlichen Feuerwerks. Wir sahen nur zwei Raketen, hörten aber die Böller explodieren. Panik herrschte auf zwei benachbarten Wiesen, auf denen jeweils ein Pferd graste. Wir hörten, daß auf den Straßen im Ort getanzt wurde. Die Rede des Königs um 9 Uhr abends war eine seiner besten. Die Stimmung ist jetzt besser.
Charlie Draper
London
Alle waren wie verrückt, tanzten und sangen auf den Straßen. Meine Freunde und ich tranken einiges, und ich landete in dem Brunnen auf dem Trafalgar Square. Ich dachte: Well, sie haben mich nicht gekriegt, und war glücklich, überlebt zu haben. Ich werde nun noch einen guten Drink nehmen und die Tatsache feiern, daß ich noch am Leben bin. Ich muß dann im St. James’s Park geendet haben, denn dort fand ich mich am nächsten Morgen wieder.
Joan Wyndham *1922
London
Nahmen den ersten Zug. Ein Verrückter in unserem Abteil versuchte uns die ganze Zeit davon zu überzeugen, daß das Ganze eine Falschmeldung sei. Der Krieg sei gar nicht zu Ende, sondern wir seien jetzt im Krieg mit den Russen! Erst als der Zug in London eintraf und ich die Kirchenglockenläuten hörte, war ich von der Wahrheit überzeugt. Als ich im Nell-Gwyn-Haus ankam, waren Mutter und Sid schon dabei, den Frieden mit einer Flasche Sherry zu begießen, obwohl sie vor Aufregung und wegen eines furchtbaren Gewitters die halbe Nacht nicht geschlafen hatten. Roosie, Sids Teddy, saß in seiner Wiege mit dem Union Jack um die Pfote gewickelt. Draußen läuteten die Kirchenglocken immer noch wie verrückt.
Mutter kochte nach einem Rezept von ‹The Kitchen Front› ein Festessen – eine schreckliche Mischung aus Innereien und Hafergrütze. War nicht gerade ein Bombenerfolg, aber der Obstsalat aus der Dose war in Ordnung. Und dann holten wir eine schon lange versteckte Flasche Gin hervor. [...]
Abends wollten wir uns dann ins West End wagen. Mutter und Sid, die sich beide an Fälle von Vergewaltigungen und Orgien am Ende des ersten Weltkriegs erinnerten, zogen die unerotischsten Sachen an, die sie finden konnten, dazu schwere, «Männer abschreckende» Hosen. Eigentlich fehlte nur noch der Keuschheitsgürtel.
Auf dem ganzen Trafalgar Square herrschte helle Aufregung, und fast ganz London schien in Flutlicht getaucht – soviel unerwartetes Licht wirkte irgendwie unrealistisch. Die Leute tanzten wie verrückt herum, sprangen in die Springbrunnen und kletterten auf die Laternenpfähle. Dazu der leicht rot glühende Himmel von den Freudenfeuern, die ein bißchen an den «Blitz» erinnerten.
Die meisten Pubs schienen keinen Alkohol mehr zu haben, also brachte ich die beiden in den York Minster Pub, wo noch Rotwein in Strömen floß. Hinter dem Tresen stand Monsieur Berlemont, sein prächtiger Schnurrbart stand vor Aufregung fast aufrecht. Wir saßen an einem kleinen runden Ecktisch. [...] Ein französischer Matrose gab meiner Mutter einen Kuß und tauschte seine Mütze mit ihr; er nahm ihre kleine braune Samtmütze und gab ihr seine mit einem Bommel obendrauf. Es war ihr unglaublich peinlich. Sofort war sie damit beschäftigt, ihre Haare wieder in Ordnung zu bringen, sie über die Ohren zu legen. Sie haßte es, wenn irgend jemand ihre Ohren sehen konnte, und das, obwohl sie sogar recht hübsch waren.
Als wir von Soho in Richtung Piccadilly zogen, waren wir alle schon recht wackelig auf den Beinen. Wir kämpften uns langsam durch die Menge in Richtung Whitehall, wo angeblich Churchill erscheinen sollte. Es wurden alte Lieder gesungen: «Roll out the Barrel», «Bless ‘em All» und «Tipperary», und die Leute tanzten im Kreis. [...]
Wir hakten einander unter und schaffen es so, langsam in RichtungWhitehall zu gehen. Dort angekommen standen wir eingequetscht wie die Sardinen in der Dose.
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