Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
bis jetzt fehlt es an jeder Verleugnung des Nazitums, jedem Wort, daß die «Machtergreifung» ein fürchterliches Unglück, ihre Zulassung, Begünstigung ein Verbrechen ersten Ranges war. Die Verleugnung u. Verdammung der Taten des Nationalsozialismus innen und außen, die Erklärung, zur Wahrheit, zum Recht, zur Menschlichkeit zurückkehren zu wollen, – wo sind sie? Die alberne Zerissenheit der Emigration, der neidische Haß auf mich und meine Haltung kommen hinzu, die Freude niederzuhalten. – Eine gewisse Genugtuung ist das physische Überleben. Nach dem Fall Frankreichs ließ Göbbels meinen Tod melden; er konnte es sich nicht anders denken. Und hätte ich mir Hitlers Falschsieg als ernst zu Herzen genommen, wäre mir auch wohl nichtsanderes übrig geblieben, als einzugehen. Überleben hieß: siegen. Es ist ein Sieg. Klarheit darüber, wem der Sieg zu danken: Roosevelt. – Schrieb dies morgens und fuhr dann im XXVI Kapitel fort. Machte nach dem Rasieren Rundgang in der Nähe. Viel Post nach Tische zu lesen: Artikel aus «Washington Post», Briefe von Kerényi und schon von Gratulanten; Brief von Monty Jacobs aus London wegen Botschaft zu der am 3. Juni in einem Londoner [Konzertsaal] zu haltenden Geburtstagsfeier unter Teilnahme englischer Schriftsteller. – Nach dem Thee Diktate an K.: An Elmer Davis wegen Révy, an Knopf und Leiser. – Truman und Churchill werden morgen das Ende des europ. Krieges verkünden. In Europa, Rom, Oslo, Stockholm, Jerusalem wird gejubelt. Dabei aber wird noch gekämpft, angeblich weil die Kommunikations-Verbindungen mit den Truppen in Deutschland langsam arbeiten, in Wahrheit aber wohl, weil die Autorität der Döniz und Jodl sehr zweifelhaft und Teile von Panzergrenadieren, S.S. Leuten, Hitlerjugend einfach nicht parieren. Man hört auch nichts von der Entwaffnung der Truppen, die vor Montgomery kapitulierten. Möglich ferner, daß die Russen nicht befriedigt im Punkt der Massenübergaben an die Alliierten. Freilich hat bei Eisenhower in Reims der Russe mit unterschrieben. E. hatte begreiflicher Weise die Veröffentlichung noch nicht gewünscht. Sträfliche Übereilung der Associated Press.
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Swetlana Allilujewa *1924
Moskau
Am 9. Mai 1945, als der Rundfunk das Ende des Krieges meldete, rief ich Vater [Stalin] an; es war am frühen Morgen, ich war furchtbar aufgeregt, ganz Moskau war lärmend und lustig, alle wußten bereits vom Sieg ... «Papa, ich gratuliere dir zum Sieg!» konnte ich nur sagen, dann mußte ich weinen. «Ja, der Sieg», sagte er. «Danke, ich beglückwünsche dich. Wie fühlst du dich?» Ich fühlte mich herrlich, wie alle Menschen in Moskau an diesem Tage.
Wir, das heißt mein Mann und ich, luden alle unsere Bekannten zu uns ein. Die Zimmer waren gesteckt voll, wir tranken Champagner, tanzten und sangen. Die Straßen quollen von Menschen über, ich hatte Angst, auszugehen, ich erwartete in zwei Wochen das Kind. [...] Wir alle befanden uns in einem gehobenen Zustand, uns war so freudig zumute in jenem Mai 1945.
Ilja Ehrenburg 1891–1967
Moskau
Abends übertrug man eine Rede Stalins. Er sprach kurz und selbstsicher, in seiner Stimme war keinerlei Erregung zu spüren. Er redete uns nicht wie am 3. Juli1941 mit «Brüder und Schwestern» an, sondern mit «Landsleute». Draußen krachte ein nie dagewesener Salut, das Feuer von tausend Geschützen ließ die Fensterscheiben erzittern. Ich aber dachte an die Rede von Stalin. Das Fehlen jeder Herzlichkeit stimmte mich traurig, aber ich wunderte mich nicht darüber. War es doch der Generalissimus, der sprach, der Sieger. Was sollten ihm Gefühle? Die Menschen, die seine Rede hörten, ließen Stalin ehrfurchtsvoll hochleben. Auch darüber staunte ich längst nicht mehr. Ich hatte mich daran gewöhnt, daß es Menschen gibt mit ihrer Freude und ihrem Leid und irgendwo über ihnen Stalin. Zweimal im Jahr kann man ihn von fern sehen: auf der Tribüne des Mausoleums ... Er will, daß die Menschheit vorwärtsmarschiert. Er führt die Menschen, entscheidet über ihr Schicksal. Ich selbst schrieb über Stalin, den Sieger. Ich dachte an die Soldaten, die an diesen Mann glaubten, an die Partisanen und Geiseln, die ihren Abschiedsbrief vor dem sicheren Tod mit dem Satz: «Es lebe Stalin», beendeten. [...]
Heute an den Abend des 9. Mai zurückdenkend, könnte ich mir andere, weitaus zutreffendere Gedanken zuschreiben. Hatte ich doch das Schicksal von Gorew, Stern, Smusikewitsch und Pawlow nicht vergessen, wußte ich
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