Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
die Central Hall geht, bekommt er Beifall von der Menge. Sie klatschen in die Hände. Ein ganz kleiner Junge ist mutig, stürzt zu ihm und bittet um ein Autogramm.
Winston setzt feierlich seine Brille auf und schreibt. Dann tätschelt er dem erfreuten Jungen den Kopf und lächeld strahlend.
Ich habe Schwierigkeiten, hinterher zu den Travellers zu gelangen, da alleStraßen gesperrt sind. Vielleicht gelange ich um den Berkeley Square dorthin. In dem unteren Zimmer hören wir um 9 Uhr die Rede des Königs. Die Worte sind ausgezeichnet gewählt, und er stottert nicht zu schlimm.
*
Paul Winkler
Giesdorf/Niederschlesien
Dienstag, den 8. Mai 45, nachmittag 3 Uhr, herrschte bei den Italienern große Freude; es wurde gesungen, eine Musikkapelle spielte heitere Weisen. Ich ging sofort zu ihnen und erfuhr, der polnische Sender hat Waffenstillstand angesagt. Am andern Tage gab dies auch der russische Sender bekannt.
Hans Warren
Holland
8. Mai – VE Tag. Jeder scheint froh zu sein, singt, spielt, lacht, ist überglücklich. Ich habe so lange geweint, dass ich jetzt Kopfweh habe. Stundenlang konnte ich nicht schlafen wegen der Suchscheinwerfer, die sich grell blau und weiß hin und her bewegten und die Nacht durchdrangen, niedrig über der Erde; das Aufsteigen von Feuer, rot, grün, gelb und weiß; das endlose V-Gehupe von den Schiffen: ...––––––, ...––––––, heiser, hoch und vibrierend. Mädchen kamen vorbei, singend, mitten in der Nacht. Sie sangen die englischen Lieder, die ich ihnen in dem Kursus beigebracht hatte, und ich lag da, in mein Kissen beißend, um Schlaf flehend. Ich wollte den überschwenglichen Lärm der Soldaten und Feiernden nicht hören.
Der Matrose Horst Wilking *1926
Rotterdam
Am 8. Mai 1945 hatte ich Wache von 4.00 bis 8.00 Uhr. Während dieser Zeit, in der ersten Morgendämmerung, begannen in Rotterdam viele Glocken zu läuten, obwohl doch gar kein Sonntag war! Irgendwo in der Stadt schienen auch Schießereien zu sein, und dann sah ich auf einem Speichergebäude im gegenüberliegenden Katendrecht (wir lagen mit unserem Boot im St.-Jobshaven) eine rote Flagge wehen, die mit Hammer und Sichel geziert war! Das war es also! Der Krieg war wohl vorbei, und unser Hauptgegner konnte seine Flagge ungestört in einer noch von uns besetzten Stadt zeigen.
Noch hatte ich bis 8.00 Uhr Wache – und bei uns an Bord bzw. in unserem Hafenbecken war es ganz ruhig. Ich konnte also weiter nachdenken und beschloß, mich nach Beendigung meiner Wache zu erschießen.
Ich sah aufgrund meiner bisherigen Lebenseinstellung keinerlei Lebensmöglichkeit, und der Tod schien das einzige zu sein, diese Schmach zu überdecken. Als es dann soweit war, machte sich ein anderer Gedanke breit. Das mit dem Erschießen hatte ja wohl noch etwas Zeit; es war doch sicherlich höchst interessant zu wissen, wie es denn nun wohl weiterging. Dieser Gedanke setzte sich fest – und von da an wurde ich nun ein Zuschauer meiner selbst. Und es ging natürlich weiter.
Max Beckmann 1884–1950
Amsterdam
Dienstag 8. Mai 1945. Morgens alleiniger Morgenspaziergang über den Bahnhof. Die Engländer kommen jetzt massenhaft in Tanks – Lastwagen – überall sitzt die Bevölkerung jubelnd mit drauf. – Ich hab’ feste noch den ganzen Tag gearbeitet ... Na ja – es geht weiter alles wie ich’s vorausgesehen.
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Bertolt Brecht 1898–1956
New York
nazideutschland kapituliert bedingungslos. früh sechs uhr im radio hält der präsident eine ansprache. zuhörend betrachte ich den blühenden kalifornischen garten.
Elias Canetti 1905 –1994
(London)
Der Zusammenbruch der Deutschen geht einem näher, als man es sich zugestehen mag. Es ist das Maß der Täuschung, in der sie gelebt haben, das Riesenhafte ihrer Illusion, das Blindmächtige ihres hoffnungslosen Glaubens, was einem keine Ruhe gibt. Man hat immer die verabscheut, die diesen eklen Glauben zusammengeleimt haben, die wenigen wirklich Verantwortlichen, deren Geist zu soviel gerade noch ausgereicht hat, aber die anderen alle, die nichts getan als geglaubt haben, in wenigen Jahren mit so viel konzentrierter Kraft wie die Juden sie über Jahrtausende aufbrachten, die Leben und Appetit genug hatten, um ihr irdisches Paradies, Weltherrschaft, wirklich zu wollen, alles übrige dafür zu töten, selber dafür zu sterben, alles in kürzester Zeit, diese unzähligen blühenden, strotzend gesunden, einfältigen, marschierenden, dekorierten Versuchstiere für Glauben, abgerichtet
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