Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Sprechchöre riefen «Warum warten wir?» und «Wir wollen Winnie» – einige Leute fielen in Ohnmacht, doch plötzlich ging das Flutlicht an, Sirenen heulten, und da stand er auf dem Balkon und machte das V-Zeichen, ganz wie auf Pathé Gazette.
Er hielt eine ganz wunderbare Ansprache, obwohl ich mich jetzt nicht mehr an sehr viel erinnern kann. Außer an die Stelle, in der er uns fragte, ob wir entmutigt gewesen seien und wir alle ‹Nein› zurückschrien. Dann wurde ‹Land of Hope and Glory› gesungen, und ich bin sicher, daß alle dabei in Tränen ausbrachen – ich auf jeden Fall. Einer der aufregendsten Momente meines Lebens.
Hinkte dann nach Hause, mit meiner Strumpfhose in Fetzen gerissen und einen Schuh verloren. Am Himmel Tausende von Scheinwerferkegeln.
Was für ein wunderbarer Tag!
Miss Fisher
London
Ich ging am Abend mit der Jugendgruppe der Kirche zur Victoria Station, und von dort spazierten wir nach Whitehall. Dort wartete eine riesige Menschenmenge vor dem Gesundheitsministerium, wie wir hinterher hörten, um den Premierminister Mr. Winston Churchill zu sehen; alles was wir sahen, war ein angestrahlter Balkon, auf dem auf jeder Seite Menschen standen. Wir liefen oder vielmehr schoben uns von Whitehall zum Trafalgar Square, wo auch riesige Menschenmengen waren. Die Nelsonsäule wurde aus allen Richtungen angestrahlt. Um uns herum knallte es unwahrscheinlich, und manchmal war es schwierig zusammenzubleiben. Vom Trafalgar Square gingen wir weiter zum Leicester Square und von dort zum Piccadilly, wo alles völlig verstopft war. Dort hielten wir für eine Weile an und beobachteten ein Mädchen, das auf einen Laternenmast kletterte, auf dessen Spitze ein paar Jungen von der Air Force saßen. Das Mädchen erreichte endlich die Spitze und winkte mit ihrer Hand der Menge zu, die ihr dreimal stürmisch zujubelte.
Wir gingen dann weiter hinter dem Regent Palace Hotel in die Regent Street, dann zur Mall, aber es gelang uns nicht, nahe an den Buckingham Palast heranzukommen, die Menge war so dicht. Weiter ging es in den St. James’s Park und zu einem großen Freudenfeuer, um das herum viele Menschen zusammen sangen – wir stimmten alle ein.
Wir klammerten uns aneinander und gingen durch den Park und kamen endlich zum Big Ben, der fünf Minuten vor zwölf anzeigte; eine Minutenach Mitternacht tritt der Waffenstillstand offiziell in Kraft, und daher warteten wir und hörten die Stunde schlagen. Als es zwöf schlug, war plötzlich Stille, dann «Auld Lang Syne» und dreifach gewaltige Hochrufe.
Als wir zur Westminster Bridge zogen, war dort ein höllischer Lärm von den Schiffssirenen, alle verschiedenen Tonarten, in der Tat, ein wirkliches Spektakel!
Ein außerordentlich schöner Abend, der nicht vergessen werden wird.
Harold Nicolson 1886 –1968
London
VE-Day. [...] Ich betrete das Parlamentsgebäude. Der Raum ist überfüllt, und ich sitze auf der Stufe unterhalb der Querbank. Ich sehe eine Bewegung an der Tür, und Winston kommt herein, ein wenig scheu – ein wenig errötet – aber mit jungenhaftem Lächeln. Das Parlament springt auf, und es gibt einen langen, donnernden Applaus. Er verbeugt sich und lächelt anerkennend. Ich blicke hinauf zur Galerie, wo Clemmy (Churchill) sein sollte. Aber statt dessen ist da Mrs. Neville Chamberlain. Und darauf beginnt Winston. Er wiederholt die kurze Erklärung, die er gerade über den Rundfunk abgegeben hat und schließt mit «Vorwärts, Britannia», und dann legt er sein Manuskript beiseite und mit mehr Gesten und Betonung, als man es von ihm gewohnt ist, dankt er dem House (Parlament) für seine Unterstützung in allen diesen Jahren. Er schlägt dann vor, daß wir uns zur Church of St. Margaret’s Westminster begeben. Der Speaker verläßt seinen Platz, und sein Amtsstab wird ihm gebracht. Er hat seine Robe angelegt mit goldenem Besatz an seinem Talar, und sein Chaplain und der Sergeant-at-Arms tragen auch vollen Ornat. Wir gehen nacheinander durch den St. Stephen’s Ausgang, und die Polizei hält in der Menge eine Gasse frei. [...] Dann feiern wir einen Gottesdienst, einen sehr denkwürdigen dazu. Der Höhepunkt ist, als der Kaplan die Namen der Parlamentsmitglieder verliest, die ihr Leben gelassen haben. Es ist eine traurige Angelegenheit, das so zu hören. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich hoffe, Nancy bemerkt es nicht. «Männer sind so gefühlsbetont», sagt sie.
Wir gehen alle in das Raucherzimmer. Winston kommt mit uns. Als er durch
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