Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
doch, daß sie keine Verräter waren, sondern grundehrliche, durch und durch saubere Menschen, deren Beseitigung zusammen mit der Liquidation der anderen Kommandeure der Roten Armee, der Ingenieure, der Intelligenzija, unserem Volk teuer zu stehen kam. Aber ich will offen sein: An jenem Abend dachte ich nicht daran.
    An den von Stalin ausgesprochenen (besser: verkündeten) Worten war alles überzeugend. Und die Salven der tausend Geschütze klangen wie ein Amen.
    Wahrscheinlich fühlten alle an jenem Tag, daß eine wichtige Hürde genommen war, vielleicht die wichtigste. Irgend etwas ist zu Ende, irgend etwas Neues beginnt. Ich wußte, daß das Leben nach dem Krieg nicht leicht sein würde. Das Land ist verheert und arm, viele junge und kräftige Männer sind gefallen, vielleicht die besten. Aber ich wußte auch, wie sehr unser Volk gewachsen war, ich entsann mich der klugen und edlen Worte über die Zukunft, die ich so oft in Bunkern und Unterständen gehört hatte. Und wenn mir an jenem Abend jemand gesagt hätte, wir hätten die Leningrader Affäre und die Sache mit den jüdischen Ärzten noch vor uns, kurzum alles, was zehn Jahre später auf dem Zwanzigsten Parteitag entlarvt und angeprangert wurde, hätteich diesen Mann für verrückt erklärt. Nein, ein Prophet war ich gewiß nicht. [...]
    Alle gratulierten Stalin und rühmten die Rote Armee. Und trotzdem, mein Herz wollte sich nicht beruhigen.
    Und was wird bei uns nach dem Krieg sein? Darüber dachte ich noch mehr nach. Wir brauchen neue Erziehungsmethoden: keine Anschnauzer, kein Auswendiglernen, keine Kampagnen, sondern Inspirationen. Den jungen Herzen muß man Güte, Vertrauen und jenes Feuer einhauchen, das die Gleichgültigkeit dem Schicksal des Kameraden oder Nachbarn gegenüber ausschließt. Und das Wichtigste: Was wird Stalin jetzt tun? [...]
    Im Auftrag des «Roten Stern» fuhr Irina nach Odessa, wo die von der Roten Armee befreiten Engländer, Franzosen und Belgier eingeschifft wurden. Gleichzeitig traf aus Marseille ein Transport mit unseren Kriegsgefangenen ein. Unter ihnen waren welche, die aus dem Lager geflohen waren und in französischen Partisaneneinheiten mitgekämpft hatten. Irina erzählte, man habe sie wie Verbrecher behandelt und sofort isoliert; es hieß, man würde sie in Lagern unterbringen. Minutenlang stellte ich mir die Frage: Wird sich das Jahr siebenunddreißig wiederholen? Aber die Logik spielte mir wieder einmal einen Streich. Ich sagte mir: Damals hatte man Angst vor dem faschistischen Deutschland, deshalb wurde das Feuer auf die eigenen Reihen eröffnet. Jetzt ist der Faschismus zerschlagen, die Rote Armee hat ihre Stärke erwiesen. Das Volk hat zu viel mitgemacht. [...] Das was war, kann sich nicht wiederholen. Wieder einmal hielt ich meine Wünsche für Wirklichkeit und die Logik für ein Pflichtfach in der Schule der Geschichte. [...]
    Der letzte Kriegstag ... Niemals fühlte ich mich den anderen so verbunden wie in den Jahren des Krieges. Einige Schriftsteller haben damals gute Romane und Dichtungen geschrieben. Was aber blieb mir übrig? Tausende von Artikeln, die einander gleichen, die heute nur noch ein allzu gewissenhafter Historiker durchzulesen imstande ist, und noch einige Dutzend kurzer Gedichte. Dennoch bedeuten mir jene Jahre sehr viel. Zusammen mit allen habe ich damals gelitten, gehaßt, geliebt. Ich lernte die Menschen besser kennen und stärker lieben als vorher in langen Jahrzehnten: so groß war die Not und die Macht der Herzen.
    Auch daran mußte ich nachts denken, als die Feuer der Raketen erloschen und die Lieder verstummten, als die Frauen ins Kissen weinten, um die Nachbarn nicht zu wecken. Ich dachte an das Leid, an den Mut, an die Tiefe, an die Treue.
    Markus Wolf *1923
(Moskau)
    Den Abend des 9. Mai 1945 erlebte ich in Moskau mit meinen Eltern auf der Steinbrücke nahe des Kreml. Während der Salutschüsse zum «Tag des Sieges» fühlten wir uns eins mit Tausenden jubelnder Menschen, deren Vaterland in den elf langen Jahren der Vertreibung aus Deutschland zu unserer zweiten Heimat geworden war. Beim Schein der bunten Raketentrauben, die sich in der Moskwa spiegelten, gab es Tränen der Freude und viele Tränen der Trauer. Mein Vater hielt seine Gefühle in dem Gedicht «Letzter Salut» fest, aus dem die Zeile stammt: «Der Krieg ist aus, die lange Nacht geschwunden ...»
    Gerhard Dengler *1914
(Moskau)
    In der Frühe des 9. Mai wurden wir – die Mitglieder und Mitarbeiter des «Nationalkomitees

Weitere Kostenlose Bücher