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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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genommen nicht ein einzelner Russe, sondern die Soldaten der sowjetischen Armee. Es wurde nun nicht mehr auf den Mann geschossen, man mußte nicht mehr andauernd in Deckung zu gehen. Ein Zurück gab es aber auch nicht mehr. Der Druck der von hinten nachrückenden Kameraden verstärkte sich. Vorwärts wollte ich eigentlich nicht, weil ich nicht genau erkennen konnte, was geschehen würde. Auf allen Anhöhen und Bergen um uns herum, auf den Feldern und eigentlich überall standen Panzer, gepanzerte und andere Fahrzeuge.
    Die russischen Soldaten kamen die Anhöhen herunter, mir entgegen. Einige Russen trieben uns mit Waffengewalt den Weg oder Straße entlang bergauf. Dabei brüllten und schrien sie laut. Sie schossen in die Luft und neben uns in die Erde. Vielleicht trafen sie auch manchen Kameraden. Ich wäre an liebsten ganz klein gewesen. Zum Zeichen, daß ich mich ergab, hob ich die Hände hoch über den Kopf und lief mehr, als daß ich ging den Hügel hinauf. Oben auf der Höhe stand eine Reihe von sowjetischen Soldaten mit Stahlhelmen und voller Bewaffnung. Siehatten Maschinenpistolen oder Gewehr mit aufgepflanzten Bajonetten im Anschlag.
    Es kam jetzt für mich darauf an, mich möglichst unauffällig zu verhalten. Unbedachtsame und hastige Bewegungen konnten als Provokation aufgefasst werden. Nervöses Handeln war unbedingt zu vermeiden. Meine Gegenüber waren auch in starken Streß situationen, die auch schwer beherrschbar waren. Die russischen Soldaten brüllten fortwährend «Rukij wiärch», was soviel wie «Hände hoch» bedeutete. Das habe ich aber erst später erfahren. Dennoch wußte ich aus der Situation heraus, was gemeint war. Ab und zu schoß einer der Russen, als wenn er seinen Worten und Gesten Nachdruck verleihen wollte. Vielleicht war es aber auch Nervosität und Anspannung; ich kann es nicht sagen. Es wurde jedenfalls geschossen. Dies war einer der bösesten Augenblicke meines Lebens. Leicht konnte auch mich ein Geschoß treffen.
    Notgedrungen näherte ich mich einem Russen. Ich bemerkte, wie einige Soldaten abgesondert wurden. Immer wieder fielen Schüsse. Immer näher mußte ich an den russischen Soldaten heran. Er war bestimmt nicht viel ruhiger als ich und auch nicht älter. Er hatte eine Pistole auf mich gerichtet. Uns trennte kaum noch ein Meter Entfernung.
    Mit der freien Hand tastete mich der sowjetische Soldat ab und durchsuchte mich nach Waffen. Plötzlich bekam ich Schläge mit der Faust, Stiefeltritte und Schläge mit dem Kolben der Waffe. Der Grund: In meinem rechten Stiefelschaft steckte noch ein Messer, das ich in der Aufregung nicht weggeworfen hatte. Es wurde von mir immer als Brotmesser benutzt. Es hatte eine starke Klinge und konnte auch schon mal eine Dose öffnen. Der Russe aber sah es als Waffe an. Das Messer konnte ja auch so eingesetzt werden. Der Russe zweifelte vielleicht auch an meiner Friedfertigkeit. Vielleicht hatte er ja auch nur Angst, genau wie ich. Es waren entsetzliche Augenblicke. Alle Beteiligten waren in einer im Leben wohl äußerst selten vorkommenden und höchst gefährlichen Ausnahmesituation.
    Man trieb mich zu den immer größer werdenden Haufen meiner bereits durchsuchten Kameraden. Mein Körper tat mir von den Schlägen weh. Ich war sehr aufgeregt und hatte große Angst, daß mir noch mehr geschehen könnte. Ich versuchte sofort in der Menge der Kameraden unterzutauchen. Das gelang mir auch. Zum Glück habe ich diese Momente höchster Gefahr überlebt. Die sowjetischen Soldaten, die mich gefangennahmen, ließen mich am Leben.
    Der Funkmeister Heinz Dost
Melnik bei Prag
    Als Funkmeister der 1. Panzerkorps-Nachrichtenabteilung 457 geriet ich am 8. Mai 1945 in tschechische Gefangenschaft. Ort der Gefangennahme: Melnik bei Prag. Mit mir geriet mein Mechaniker in Gefangenschaft. Wir wurden von tschechischen Partisanen, die sich in der Nacht mit weggeworfenen deutschen Waffen wiederbewaffnet hatten, gefangengenommen und nach kurzer Durchsuchung zur Erschießung an die Wand gestellt. Auf Befehl des Partisanenführers wurden die Gewehre durchgeladen. Man befahl uns, den Kopf etwas zu senken. Dann wurde von der Vollstreckung abgesehen. Es näherten sich auf der Straße Leute, deren Sprache wir nicht verstanden. Wir konnten aber so viel verstehen, daß es sich um ehemalige russische Kriegsgefangene handelte. Diese russischen Kriegsgefangenen hatten sich ebenfalls mit deutschen Waffen bewaffnet und wurden von den Tschechen aufgefordert, uns zu dem nahe liegenden

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