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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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ganz unmöglich, ihn mitzunehmen, aber ehe ich ihm anderswo einen Platz besorgen konnte, war er von der Nacht verschluckt. Dies werfe ich mir noch heute vor, denn später hörte ich auf meine Nachforschungen hin, er sei in Sibirien verhungert. Es war bereits Nacht, als sich die zwanzigtausend Mann starke Besatzung des Truppenübungsplatzes Milowitz am 8. Mai 1945 zum Abmarsch aufstellten. General R., der Lagerkommandant, dachte, mit dieser Riesenkolonne von Militärfahrzeugen, darunter sechshundert Panzern und Hunderten von Bauernwagen, beladen mit Lebensmitteln aus den sogenannten Wehrmachtsgütern, in geschlossenem Zuge nach Deutschland marschieren zu können. Der Abmarsch wurde auf 23 Uhr festgesetzt, da waren plötzlich die tschechischen Gespannführer verschwunden. Naiverweise hatte man geglaubt, sie würden mitmarschieren und ihre Erntewagen nach Deutschland fahren.
    So wurden Soldaten bestimmt, die die Pferde anspannen und die Wagenführen sollten; natürlich bei völliger Verdunklung, und es war eine rabenschwarze Nacht. Schließlich wurde der Abmarsch auf vier Uhr morgens verschoben, und der General legte sich ins Bett; er spürte nichts von der geladenen Spannung im Lager, die sich von Viertelstunde zu Viertelstunde steigerte.
    *
    Victor Klemperer 1881–1960
Bayern
    Nun die Lebensgefahr vorüber, haben wir die kleinen, aber summierten Leiden unseres Zustandes reichlich satt und finden in seiner Romantik keine Entschädigung mehr. Aber das Gefühl der Dankbarkeit ist doch immerfort vorhanden, und viele Stunden des Tages sind immer wieder genußreich. Bukolische Stunden sozusagen. Dazu auch «volksnahe» und also lehrreiche.
    Ernst Jünger 1895–1998
Kirchhorst
    Der Kuckuck rief zum ersten Mal in den Moorwäldern. Der Wein am Haus bricht üppig, strotzend aus den Trieben; im Laubwerk, im Ausbruch schon verrät sich die dionysische Kraft. Einmal, vor Jahren, schnitt ich ihn zu spät und hörte in der Nacht den Saft aus den Wunden wie Blut herabtropfen.
    Aus den Beeten dringt köstlicher Duft herauf. Auch das ist Sprache, und wunderbar ist es, wenn die Pflanze im Augenblick ihrer höchsten Kraft und Fülle und zugleich des tiefsten Glückes in einer stillen Frühlingsnacht das Schweigen bricht und ihr Geheimnis auszuströmen beginnt. Auch das ist Macht, ist schweigende Werbung, die unwiderstehlich wird. In den Worten der Alten wie odor, aroma, balsamon klingt diese köstliche Seite an, während in unseren Namen Dunst, Ruch und Duft die Dunkelheit und das Geheimnis der Botschaft vorwiegen.
    Abends waren wir zum ersten Male seit sechs Jahren ohne Verdunkelung. Das ist immerhin eine bescheidene Verbesserung für uns an einem Tage, an dem Siegesfeiern in allen Hauptstädten der Verbündeten von New York bis Moskau strahlen, während der Besiegte ganz tief im Keller sitzt, mit verhülltem Gesicht.
    Ich hörte die Ansprache des englischen Königs, die würdig, gemäßigt und dem Souverän eines großen Volkes angemessen war.
    *

Der Soldat
    Joachim Halfpap *1927
bei Deutsch-Brod/Tschechoslowakei
    Am 8. Mai war es dann soweit. Mit Soldaten der Infanterie, Artillerie und der Luftwaffe marschierten wir weiter Richtung Westen. Zeitweise konnten wir auf einem Lastkraftwagen aufsitzen. Ich saß auf dem rechten Kotflügel und hielt mich an der Motorhaube fest. Wir befanden uns unter ständigem Beschuß. Die Gewehrschüsse und das Maschinengewehrfeuer wurde von Tschechen in Zivil abgefeuert. Sie warfen auch Handgranaten nach uns. Sie versuchten uns aufzuhalten und zu schaden. Immer öfter mußte unsere Kolonne anhalten, Fahrzeuge fielen aus, Soldaten flüchteten.
    Wir kamen nur sehr langsam vorwärts. Oft mußten wir in Deckung gehen. Schließlich kamen wir nur noch zu Fuß weiter. Im Morgengrauen war der Marsch endgültig zu Ende. Wir kamen nicht mehr weiter. Es ging nicht vorwärts und nicht zurück. Wir befanden uns in einem Talkessel. Rundum waren zum Teil leicht bewaldete Hügel. Auf der Höhe vor mir, wenn man der Straße folgte, standen Panzer. Aus der Richtung, aus der ich kam, drängten viele Kameraden nach. Es entstand Panik. Viele von uns hatten noch nicht bemerkt, daß es einfach nicht mehr vorwärtsging. Keinen Schritt mehr. Vor uns stand der Russe.
    Die Zustände wurden immer chaotischer. Nachfolgende deutsche Soldaten drängten ständig – was sollten sie auch anders machen – in den Talkessel hinein. Sie meinten sicher, es müsse irgendwie weitergehen. Vor uns, und auch vor mir stand der Russe. Genau

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