Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
entdecken? Statt der erwarteten Berichte über das tägliche Kriegsgeschehen gab es für mich eine große Überraschung. Um 1.40 Uhr meldete BBC: «Morgen, Dienstag, den 8. Mai, feiert England als Tag des Sieges.» Damit mußte also, wenn England den Sieg feiern wollte, der Krieg beendet sein. Meine Empfindungen waren zwiespältig, sehr große Freude kam nicht bei mir auf.
Gewiß, der Krieg war zu Ende, ich war mit dem Leben davongekommen, aber ebenso gewiß stand uns jetzt Kriegsgefangenschaft bevor. Wir würden auf lange Zeit, vielleicht auch auf sehr lange Zeit die Heimat nicht wiedersehen.
Es ergab sich keine Gelegenheit, meinen engsten Kameraden zu erzählen, was ich heimlich gehört hatte. Sie schliefen noch, mein Dienst dauerte noch bis zum Morgen, und da zeigte sich, daß meine Nachricht schon keine Neuigkeit mehr war. Seit der Morgenfrühe durchzogen Einheiten des Heeres den Ort, beinahe endlos und zum Teil schon in loser Ordnung. Dazwischen tauchten immer wieder Volkssturmmänner auf, gruppenweise oder auch einzeln, in oft grotesker Kleidung. Es war ein Bild des Chaos, das Bild einer zurückflutenden geschlagenen Armee. Die meisten trotteten stumm dahin, einige, als sie uns sahen, sagten: «Der Krieg ist aus.»
Der Waffenstillstand trat am 8. Mai eine Minute nach Mitternacht in Kraft. Unser großes Glück bestand in der Tatsache, daß die Division schon seit einigen Tagen nicht mehr Bestandteil der HKL war, sondern abgelöst weit hinter der Front lag. Im anderen Fall wäre die Division wohl in sowjetische Gefangenschaft geraten. Bevor wir aus Lichendorf abfuhren, ließ der Kommandeur das Regiment antreten. Obersturmbannführer Josef Maier, ein geborener Österreicher, hielt eine leidenschaftliche Ansprache. Ungefähr sagte er: Man wisse, wie grauenvoll die bolschewistische Soldateska in Ungarn und der Oststeiermark wüte. Bevölkerung werde ermordet, Frauen werden geschändet. Er beschwor uns geradezu, mit ihm in die Berge zu gehen, um kämpfend Frauen und Kinder in der Steiermark und in Kärnten vor weiterem Unglück zu schützen. Das stieß auf taube Ohren, nicht ein einziger Soldat des Regimentes zeigte sich bereit zu einem Kampf im Untergrund, der ja außerdem völlig aussichtslos war.
Liesbeth Flade
Auf der Flucht nach Karlsbad
Abends um 6 Uhr ging es los. Vati hatte die Verantwortung. Maria und ich blieben mit unseren Fahrrädern immer in der Nähe des Kompaniewagens, und als es gar zu anstrengend wurde, es ging ja zunächst immer bergauf, durfte Maria mitsamt ihrem Rad auf den Wagen. Waren wir erst fast allein gewesen, so wurden wir sehr bald zur Riesenkarawane. Von allen Seiten stießen größere und kleinere Trupps mit Handwagen, Kinderwagen, zu Fuß zu uns. Unheimlich viele suchten ja noch in der Flucht ihr Heil. Ich wäre bestimmt nicht aus Angst um unser Leben geflüchtet, aber unter keinen Umständen wollte ich unser Geschick vonVatis trennen, und mußten wir Schweres erleben, dann waren wir wenigstens zusammen.
Es mußte gegen 12 Uhr nachts sein, da sahen wir in weiter Ferne und auch in einiger Nähe große Flammenzeichen. Wir wußten nicht, was es bedeutete, wir rätselten – vielleicht war Waffenstillstand? Keiner wußte es. Und nun ging’s den Berg hinan auf engem Pfad, wo ein Wagen kaum fahren konnte An einer Kurve war ein Auto den Berg hinabgekollert, Menschen offenbar nicht zu Schaden gekommen, aber es war nicht wieder hochzubringen Die Leute dauerten uns sehr. Als wir die Serpentinstraße hinunter waren, trafen wir im spitzen Winkel auf eine ganz breite Straße. Da brauchten wir mindestens eine halbe Stunde, ehe wir uns eingefädelt hatten: zu dritt und viert nebeneinander schob sich die unübersehbare Menge langsam vorwärts, die Fußgänger schwer bepackt, Frauen mit Leiterwagen, Radfahrer, Pferdewagen. Am traurigsten war immer der Anblick von Frauen mit kleinen Kindern im Wagen. An Überholen war nicht zu denken, nur motorisiertes Militär jagte hin und wieder an uns vorbei, alles auch auf der Flucht.
Der Stabsarzt
Truppenübungsplatz Milowitz/
Dr. Wilhelm zur Linden
Tschechoslowakei
Am Dienstag, den 8. Mai nachts, brachen wir auf zur Flucht nach Westen. Als wir in der tiefen Dunkelheit einer mondlosen Nacht alles in mein Dienstauto verstaut hatten, was ich als Arzt unterwegs brauchte und die Sitzplätze von meinen engsten Mitarbeitern belegt waren, hörte ich die Stimme des Oberstabsrichters, Ritter von Fabrizius, der fragte, ob wir für ihn noch Platz hätten. Es war
Weitere Kostenlose Bücher