Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
schrecklichsten Nacht. Hans setzte sich auf seine Eßschale und schlief vor Schwäche ein. Als er erwachte, war er im Wasser, und als Folge davon hat er furchtbaren Durchfall. Nicht weniger als 40 Mal mußte er auf die große Seite gehen. Er bat mich, irgendein Gegenmittel aufzutreiben. Ich lief natürlich ins Spital zu einer bekannten Schwester, doch bekam ich nur Tierkohle. Zum Glück hatte ich noch getrocknetes Brot, das ich ihm auch brachte, damit er nicht in Versuchung kommt, etwas zu essen, was ihm schaden könnte. Im Dezember 1943 gingen von hier 1500 Personen weg und gestern kehrten 280 zurück. Alle anderen sind vergast, verhungert oder an den Strapazen zugrunde gegangen. Auch unsere liebe gute Mama werden wir nicht mehr sehen. Was diese Menschen erlebt haben und sahen, ist so ungeheuerlich, daß es kaum glaubhaft ist. Die Osttransporte, die von Theresienstadt abgefertigt wurden, kamen nach Birkenau, ein Nebenlager von Auschwitz, unter Stacheldraht. Dort verblieb der ganze Transport 6 Monate unter Quarantäne. Dann wurde von der Lagerleitung in Berlin angefragt, was mit dem Transport zu geschehen habe, und [man] gab gleichzeitig eine allgemeine Übersicht über den gesundheitlichen Stand und die Arbeitsfähigkeit der Leute. Gemäß dieser Einschätzung lautete dann das Urteil aus Berlin: «Vernichten» oder «Arbeitseinsatz». Im ersten Falle wurde der ganze Transport, ob Mann, Frau oder Kind, alt oder jung, krank oder gesund, vergast. Im zweiten Fall wurden die Arbeitsfähigen vom SS-Lagerarzt ausgesucht und der Rest gleichfalls vergast. Für einen Arbeitseinsatz kamen nur Männer unter 50 und Frauen unter 40 in Betracht. Selbstverständlich versuchte jeder, sich jünger zu machen, wenn er an dieser gefährlichen Grenze stand, um sein Leben noch einmal zu retten. Hans erzählte mir, daß sie drei Mal an den Gaskammern vorbeigeführt wurden und man sich dann doch noch entschloß, den Transport auszumustern. Die Nacht vor seinem Abtransport zu weiterer Sklavenarbeit nach Deutschland verbrachte Hans noch mit unserer lieben Mama. Es muß furchtbar für sie gewesen sein, Hans hat dann noch viel ausstehen müssen, aber zum Glück ist er heute hier. Gegen Mittag wurde der ganze Transport zur sogenannten Entwesung geführt. Ich ging natürlich öfter hin, um zu sehen, was mit ihnen ist. Nachmittags kamen zurückweichende SSTruppen am Ghetto vorbei, und obwohl das RoteKreuz angebracht war, warfen sie Handgranaten hinein und schossen mit Maschinenpistolen. Die Leute mußten in den Häusern bleiben. Am frühen Nachmittag griffen alliierte Flieger Leitmeritz an, und da ich gerade auf dem Dachboden der Geniekaserne war, sah ich ganz deutlich die Bombeneinschläge. Später ging ich, an die Häusermauern gedrückt, wieder zur Entwesungsanstalt, aber Hans war noch immer nicht an der Reihe. Als es finster wurde, ging ich noch einmal hin. Hans war noch immer draußen, und sie saßen um einen Haufen brennender KZ-Anzüge herum. Auf einmal hörten wir das Geräusch von fahrenden Tanks und jubelnde Rufe. Das waren die Russen! Ich lief quer durch den Hof des Spitals, wo ich oft gesessen bin und sehnsüchtig auf die Straße hinausgesehen habe. Nun war die Bretterwand umgerissen und die Kolonnen der siegreichen Roten Armee zogen an uns vorbei nach Prag. Es war stockdunkel, und nur die Scheinwerfer der Fahrzeuge erhellten immer die Straße. Wir jubelten ihnen zu, und alles sang die «Internationale», jeder wie er konnte. Deutsch, tschechisch, polnisch, ungarisch, alles durcheinander, aber mit gleicher Begeisterung. Ich lief zu Hans zurück, der noch immer beim Feuer saß, und gerade hatten sie Nachtmahl gefaßt. Sie bereiteten sich auf eine Übernachtung im Freien vor. Es war herrlich, das Zeichen der deutschen Tyrannei und Schmach in Flammen aufgehen zu sehen, während die Truppen der befreienden Roten Armee die Reste der «unbesiegbaren» deutschen Armee zu Paaren trieb: Es war schon spät, als ich mich von Hans verabschiedete, der mit 2 Kameraden bei einem Bekannten übernachtete.
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Ilse Schulz *1913
Aussig
Am Morgen brachte das Radio die ersten Berichte von Waffenstillstandsverhandlungen. Der Krieg war zu Ende. Wir hörten es mit gesenkten Blicken. Kein Gefühl der Erleichterunng, der Hoffnung durchzog unser Herz. Unser bedrücktes Schweigen unterbrach Ullis jubelndes Stimmchen: «Mutti, der Vati!»
Mit wankenden Knien eilte ich zum Gartentor. Da stand er. Bleich und stoppelbärtig, in zerdrückter Uniform ohne Waffe, ohne
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