Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
wieder Schneewasser, trotzdem werde ich schon in der ersten Nacht entdeckt, und am nächsten Tag, wo ich vor Schwäche kaum stehen und mich rühren kann, sucht mich ein großes Aufgebot von Kommunisten. Zweimal stehen sie fast neben mir, als ich unter einer kleinen Fichte kauere. Ich kann das, daß sie mich nicht gesehen haben, nur als ein Wunder bezeichnen. Die nächsten Tage schleppe ich mich mit der größten Anstrengung nach Richtung Kronstadt.
Am 3. Mai, früh um 3 Uhr, treffe ich in dem deutschen Ort Zeiden bei Kronstadt vollkommen erschöpft ein. Ich werde gut aufgenommen. Hier sind alle deutschen Männer von 16–45 und alle Frauen von 16–35 Jahren von den Russen nach Rußland deportiert. Hier in diesem Dorf allein ca. 700 Menschen. Die Leute, die noch hier sind (die Alten), sind vollkommen verstört. In einem Hause werde ich nicht bleiben können. Zur Zeit bin ich – heute am 5. Mai 45 – in einem ungarischen Hause. Ich habe mich wieder erholt, und meine Füße, die auch vollkommen hin waren, heilen wieder. Wie es in Deutschland steht, habe ich hier erfahren. Ich bin erschüttert. Was werden meine Lieben machen? Werden wir uns noch einmal wiedersehen? Ich habe in Covaszna schon 3 Tagebücher geschrieben und meine Gedanken über alles festgehalten. Was kommt, kann man nun wohl voraussagen. Wir sind nun die Sklaven der anderen. Es wird furchtbar werden.
1. 5.] Rumänisch Ostern: Ich habe mir im Keller unter einem großen Holzhaufen ein Versteck gemacht. Am Tage bin ich dort, und nachts bin ich zuerst oben. Hoffentlich bleibt es so. Im übrigen denke ich ununterbrochen an zu Haus. Während ich hier in Ruhe sitze, werden meine Lieben verschleppt. Die Zukunft sieht furchtbar aus. Was soll werden? Es ist nicht auszudenken. Jedenfalls werden wohl in den nächsten Tagen die Feindseligkeiten eingestellt werden. Die deutsche Armee ist erledigt.
2. 5.] Gestern abend habe ich seit langer Zeit wieder einmal Radio gehört. Allerdings nur Feindsender. Aber ich muß sagen, ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Alles kapituliert! Die deutschen Sender schweigen, nur Graz brachte Tanzmusik. Es ist furchtbar.
Jede Nacht träume ich die schrecklichsten Sachen. Die Elbe ist die Demarkationslinie zwischen Rußland und Anglo-Amerika. Es ist nun so, daß die Deutschen die Sklaven der anderen sind. Meine Gedanken sind bei meinen Lieben. Werden sie noch leben? Unter welchen Umständen? Ich kann fast nicht mehr klar denken. Ja, es ist vorbei.
Der eine Krieg – und der andere beginnt. Der Kampf um die persönliche Freiheit. Vielleicht kann ich heute wieder hören. Es wird sich ja auch zeigen, wie die Kriegsgefangenen behandelt werden. Ich glaube nicht, daß sie schnell zurückkommen.
1. 5.] Breslau ist gestern gefallen, und 40000 Deutsche gerieten in Gefangenschaft.
Die Angst um meine Lieben läßt mich keine Ruhe finden. Aber vielleicht sind sie schon vorher evakuiert worden. Aber ich kann ja noch nicht nach Deutschland zurück. Da werde ich ja auch sofort wieder gefangengenommen.
Der Krieg ist heute aus. Dönitz hat die Einstellung sämtlicher Kampfhandlungen befohlen. Der Frieden wäre da, aber was für einer? Ich wage nicht, in die Zukunft zu sehen. Ob ich jemals noch mein Kassengeschäft ausüben darf? Das hat mich am meisten in der Zeit, die hinter mir liegt, hochgehalten. Meine schöne Wohnung. Alles hin. Wer weiß, ob ich jemals meine Lieben wiedersehe. Wenn sie tot sein sollten, dann lohnt es sich auch nicht, daß ich noch weiterlebe.
2. 5.] Hier läuten die Glocken. Die Fabriksirenen heulen. Der Krieg ist aus und gewonnen für die Alliierten. Wozu sich die Rumänen auch rechnen. Ich komme mit meinen Gedanken nicht von Deutschland los. Was wird werden? Ich glaube fest, daß aus Ostdeutschland nochmals alle nach Rußland müssen. Gestern hörte ich, daß Stalin Wiedergutmachung aller Schäden verlangt. Das dauert ein Menschenalter.
*
Der Waffen-SS-Mann Manfred Klein *1926
Slowenien
Vom Abend des 6. Mai an hatte ich Nachtdienst. Nach etlichen Stunden, es herrschte absolute Funkstille, und ich saß allein im Auto, stülpte ich mir die Kopfhörer über und suchte am Empfänger den englischen Sender BBC; durch sein markantes Pausezeichen, vier rhythmische Klopftöne, war er leicht zu finden. Es war natürlich strengstens verboten, feindliche Sender einzuschalten. Ich hatte aber die Lautstärke zurückgenommen und hörte zudem über Kopfhörer, da war Entdeckung kaum zu fürchten. Und außerdem: Wer sollte mich
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