Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
gräßlich aufgeräumt, hatten die Plünderer gewissenhaft gewütet. Geborstene Mauern und verkohlte Balken, tiefe Trichter voller Schutt und Asche, zerbrochenes Mobiliar, Scherben und Dreck, ein Trümmerhaufen. Sonst nichts mehr da. In den Ruinen des Hauptgebäudes erkennt man noch die Struktur des enormen Fensters, auf das der Hausherr so besonders stolz gewesen sein soll. Hier pflegte er sich mit seinen Gästen, seinen Schranzen und Opfern am Anblick des alpinen Panoramas zu ergötzen. Das Panorama ist noch immer eindrucksvoll; aber die häßlichen Überbleibsel des «Berghof» stören das schöne Bild. Die mannigfachen Baulichkeiten für Gäste, Dienerschaft, Journalisten und Gestapo-Beamte, die Villa Martin Bormanns, Görings Pavillon, lauter schwarze Höhlen, schwarze Haufen: lauter Schmutzflecke und Schandmale in sonst reiner Landschaft. Von dem ganzenmächtigen Komplex, der einst Hitlers Lustschloß und feste Burg gewesen, steht nur noch ein relativ bescheidener Seitenflügel, auch dieser ausgebrannt und ausgeraubt. Eine blau-weiß-rote Flagge schmückt das lädierte Dach. Die Trikolore!
Bei unserer Ankunft in Salzburg, am Abend des gleichen Tages, sahen wir an den Kiosken die Extra-Ausgabe der «Stars and Stripes» mit der großen Überschrift: «IT’S ALL OVER OVER HERE! VICTORY IN EUROPE IS OURS ...»
«It’s all over ...» Vorbei! Geschafft! Erledigt! Man denkt nicht an das Kommende, nicht heute! Heute denkt und fühlt man nur: Uff ...
Und die pazifische Front? Dort gibt es noch kein solches Aufatmen. Pessimisten sagen, der Krieg mit Japan werde sich noch viele Monate, vielleicht Jahre lang hinziehen. Ich kann’s nicht glauben. Freilich hätte ich auch nie für möglich gehalten, daß die Deutschen ihren selbstmörderisch- frevelhaften Kampf erst am 8. Mai 1945 beenden würden.
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Der britische Sergeant Martin Hauser *1913
Triest
Triest. Ein Kreis hat sich geschlossen, nach zwölf Jahren. Damals war ich auf dem Wege nach Palästina und verließ eine friedliche Stadt – heute, am «Siegestag», ist der Frieden hier noch nicht eingekehrt. Schwere Reibungen sind zwischen den Alliierten auch hier entstanden – zwischen England und Amerika einerseits und den Jugoslawen andererseits wegen deren Besetzung der Stadt. Die Jugoslawen betrachten Triest als Entschädigung für 20 Jahre Leiden unter dem italienischen Regime und die Jahre bitterer blutiger Kämpfe gegen den italienischen und deutschen Faschismus. Sie betonen die Tatsache, daß die Bewohner der Stadt zwar zumeist Italiener seien, dafür aber die Landbevölkerung vorwiegend Kroaten. Sie sagen, daß Jugoslawien dringend einen großen Hafen für die Entwicklung des Landes braucht. Schön und gut, aber womit wir nicht einverstanden sein können, ist die Art und Weise, wie sie ihr Ziel erreichen wollen. Verhandlungen? Ja. Konferenz? Einverstanden. Volksabstimmung? Gut. Aber nicht einfach zupacken und sich die Bevölkerung samt Boden einverleiben. Wir haben diesen Krieg unter anderem gegen die Behauptung geführt, daß «der Zweck die Mittel heiligt».
Siegesfeier! Vor dem Rathaus ist der große Platz mit einer riesigen Menschenmenge gefüllt. Fahnen mit roten Sternen in der Mitte flattern über den Köpfen, große Plakate mit politischen Parolen in Italienisch undJugoslawisch in den Händen vieler Teilnehmer. Vom Balkon des Rathauses hängt eine große rote Fahne, rechts von ihr der «Union Jack» und die amerikanische Flagge, links die jugoslawischen und kroatischen Farben mit dem roten Stern in der Mitte. Rede folgt auf Rede, alles in Italienisch und Jugoslawisch übersetzt, Glückwünsche an die Alliierten für ihren Sieg – zusammen mit der Forderung nach einer Annexion von Triest! Im Saal, von wo eine große Glastür auf den Balkon führt, hohe Offiziere der britischen, amerikanischen, russischen und jugoslawischen Armee. Jeder verhält sich «reserviert». Nachdem wir den Krieg gemeinsam gewonnen haben, mögen uns die Götter helfen, wenn wir nicht auch den Frieden gemeinsam gewinnen.
Erste Schritte zur Reorganisierung der jüdischen Gemeinde und provisorische Hilfsmaßnahmen.
Vittorio Segre *1920
Italien
Mein Gedächtnis hat schwarze Löcher. In einem von ihnen streiten sich die Erinnerungen ans Kriegsende. Die Nachricht vom Waffenstillstand in Italien erreichte mich in Zadar, wohin die englische Einheit, der ich angeschlossen war, zurückgekehrt war, nachdem ihr die Truppen Titos den Weg nach Triest verlegt hatten. Ich ertränkte die
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