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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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wirklich, wir schwammen ineinem Meer von Seligkeit, wir flogen durch einen Himmel durchsonnter Freude, wolkenlosen Glückes, vollkommenen Friedens.
    Bei der Ankunft in Neapel begegneten uns zuerst die zahllosen Linsen unzähliger Pressephotographen, und die zweiten, die sich unserer annahmen, waren die Girls vom amerikanischen Roten Kreuz. Sie stürzten sich mit überwältigender Nettigkeit auf uns, traktierten uns mit Kaffee, die Kinder mit Limonade und Kakao, mit kleinen Pfannkuchen, schenkten uns Beutel, die lauter nützliche Sachen enthielten; ein Stück Seife, eine Zahnbürste, einen Waschlappen, eine Schachtel Zigaretten usw. Sie drückten uns Zeitungen in die Hand, strahlten uns an wie ihre liebsten Kinder und spielten unendlich einfallsreich ihre herzliche Rolle in «Unserem Frieden».
    Da plötzlich zerriß der Traum: ein Posten trat uns in den Weg, der den Befehl hatte, die Angehörigen der Achsenmächte von denen der Alliierten zu trennen und jeden weiteren Kontakt zwischen ihnen zu verbieten. So rasch wie in der Nähe des Äquators der Wechsel von Tag und Nacht sich vollzieht, so schnell wich hier das Licht der heraufdämmernden Finsternis: ein Deutscher zu sein, wurde zum bösen Schicksal, das jäh seine Schatten über uns warf. Mit etwas verzerrtem Lächeln winkten wir unseren neuen Freunden Adieu und hatten lange zu kämpfen gegen eine schmerzhafte Übelkeit. Die amerikanischen Girls bewahrten sich ganz uneingeschüchtert ihre natürliche Herzlichkeit, und in ihrer unangefochtenen Teilnahme offenbarte sich eine echte Mütterlichkeit, die keine nationalen Unterschiede gelten lassen kann, aber das war nur ein schwacher Trost in dieser abgründigen Traurigkeit darüber, daß das «Mensch unter Menschen sein» doch nur im Traum zur Vollendung kommt.
    Nach etwa dreistündigem Warten wurden wir aufgefordert, die zwanzig vorgefahrenen Limousinen zu besteigen, die uns vom Flugplatz zum Hotel «Terminus» brachten, wo das Quartier für uns bereitet war. Wir Deutschen bewohnten das eine Stockwerk, und die übrigen Achsenmächte das andere, und auf jedem Treppenabsatz stand ein amerikanischer Militärpolizist mit umgehängter Maschinenpistole, um aufzupassen, daß keiner den Flur verließ. Uns waren vierundzwanzig Stunden Zeit gegeben, um uns mit der neuen Lage abzufinden, was umso mühsamer war, als in der gegenwärtigen Situation die leisen Anklänge an ein «da capo» von unseren mißtrauisch gewordenen Ohren nicht überhört werden konnten: alle Fragen bezüglich unseres weiteren Schicksals wurden mit einem wohlvertrauten und stereotypen «ich weiß es nicht» beantwortet. Daß diese Dinge sich so scharf in mein Gedächtnis eingeprägthaben, verdankt sich weniger einer hinter ihnen stehenden bösen Absicht seitens der Amerikaner, sondern ist vor allem so zu verstehen, daß in dieser ebenso verständlichen wie sachlich notwendigen Maßnahme ich das erste Mal dem deutschen Antlitz im ausländischen Spiegel begegnete. Daß wir mit soviel Bewachung bedacht wurden, geschah vornehmlich zu unserem Schutz, denn es konnte den Italienern ja nicht verborgen bleiben, daß soundsoviele Deutsche im Hause untergebracht waren, und ihre Reaktion darauf war mehr als unberechenbar. Die bewaffneten Militärpolizisten also warfen kein so schlechtes Licht auf die Amerikaner, wohl aber ein entsetzliches auf uns selber, deren stille Anwesenheit genügen konnte, einen Sturm wilder, empörter Wut zu entfesseln. Fast hätten wir uns zurücksehnen mögen ins KZ, wo man sich als Unschuldiger hatte fühlen können in den Händen der Schuldigen; hier hingegen lastete sich einem das Gewicht der «deutschen» Schuld mit so erdrückender Wucht auf, daß es schwer war, Ruhe und Ordnung zu wahren in dem entfesselten Widerstreit der eigenen Empfindungen.
    *
    Erich Kästner 1899–1974
Mayrhofen
    Jodl hat die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet. In Reims. Der Rundfunk überträgt die Siegesfeiern und den Jubel, der draußen herrscht. Alle miteinander sind stolz darauf, was sie in fünf Kriegsjahren geleistet haben. Und sie haben Grund, sich zu rühmen. Aber sie werfen uns vor, daß es ihrer Anstrengungen bedurfte. Was sie getan hätten, sei unsere Aufgabe gewesen. Wir, die deutsche Minorität, hätten versagt. Das ist ein zweideutiger Vorwurf. Er enthält nur die halbe Wahrheit. Sie verschweigen die andere Hälfte. Sie ignorieren ihre Mitschuld. Was sie verschweigen, macht das, was sie aussprechen, zur Phrase, und wir sind im Laufe der Zeit

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