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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Norden schon erwartete. Also machte alles in wilder Flucht kehrt, um noch im letzten Augenblick zu den im Westen stehenden Engländern zu kommen. Viele Offiziere der Kosaken erschossen sich, weil sie genau wußten, was ihnen bei den Sowjets bevorstand. In der Tat wurden sie dann vereinbarungsgemäß den Russen ausgeliefert und in Judenburg kurzerhand in einem Kasernenhof reihenweise mit Maschinengewehren erschossen.
    Wir gelangten nach einigen Pannen in langsamer Fahrt endlich nach dem österreichischen Ort Völkermarkt. So wie der Name sah es auch am Stadtrand aus: Titopartisanen, auch Frauen, teils wilde Gestalten wie aus einem Räuberroman (Wirtshaus im Spessart!) mit breiten, patronengespickten Gürteln, Handgranaten, Maschinenpistolen, Dolchen usw., kaum eine Stelle ihres Körpers ohne mörderisch aussehende Waffen. Und diese Banditen hielten uns an und wollten uns kassieren. Glücklicherweise kam im letzten Augenblick ein englischer Panzerwagen, dem wir uns ergaben und der uns auf Grund unseres Roten Kreuzes dann schützend in die Stadt geleitete. Nun waren wir in Sicherheit.
    *
    Isa Vermehren *1918
unterwegs nach Neapel
    Pünktlich auf die Minute verließen wir am Dienstag früh um zehn Uhr das gastliche Hotel. Die Abreise und alle durch sie bedingten Organisationen waren ruhig und reibungslos abgelaufen, ohne Geschrei, ohne ein lautes Kommando, ohne irgendeine Spur von Aufregung. Es fällt einem Deutschen doch schwer zu glauben, daß ein militärischer Apparat auch ohne diese gräßlichen Begleiterscheinungen funktionieren kann, aber es geht tatsächlich, und der Eindruck ist mehr als angenehm. In einem Convoy von vierzig Automobilen, darunter etwa zehn Limousinen und dreißig bei uns so genannten Kübelwagen, bewegten wir uns, einer langen Schlange nicht unähnlich, den Berg hinunter fort in südlicher Richtung. Mit Rücksicht auf die älteren Leute und die Kinder war angeordnetworden, daß die Höchstgeschwindigkeit von vierzig Stundenkilometern nicht überschritten werden durfte. Wir hatten also weidlich Gelegenheit, alle Schönheiten dieser Frühlingsfahrt hinein in den Norden Italiens zu genießen. Das Land schien noch ganz befangen in dem glücklichen Taumel des endlich beendeten Krieges. Überall hingen Fahnen aus, und auf den kleinen Marktflecken standen die Menschen beieinander, als wenn sie alle große Ferien hätten. Hin und wieder begegneten wir kleineren oder größeren Gruppen deutscher Soldaten, die auf ihre Gefangennahme warteten oder bereits auf dem Wege dahin waren. Viele müssen in einem schmerzlichen Zwiespalt gewesen sein, nie anders diesem liebgewordenen Lande begegnen zu können als unter dem Zeichen der Feindschaft, erst als feindlich eindringende Sieger und nun als besiegter verstoßener Feind; auf allen lag die Ratlosigkeit wie ein bleischweres Gewicht, unter dem sie sich nur mühsam schienen bewegen zu können.
    Am frühen Nachmittag machten wir Station in einem reizenden Gartenrestaurant, wo lange Tafeln für unseren Empfang gerichtet waren mit weißem Brot, herrlichen Marmeladeeimern und unerschöpflichen Mengen von Kaffee, Zucker und Sahne. Gegen Mitternacht erreichten wir Verona, das vom Kriege arg mitgenommen schien, und im Hotel «Colombo d’Oro» erwartete uns ein köstliches Abendessen mit gebratenen Hühnchen, Salat und Spargelköpfen, Eiscreme, Zigaretten und selbstverständlich wieder Kaffee.
    Das zeitige Frühstück am anderen Morgen war nicht weniger genußreich. Wieder bestiegen wir unsere vierzig Automobile, diesmal aber nur, um die kurze Strecke zum Flugplatz zurückzulegen, wo fünf Maschinen mit angeworfenen Motoren zum Start nach Neapel auf uns warteten. Die Sonne schien, die Luft war ruhig und klar und ließ eine gute Aussicht auf das unter uns liegende Land. Heiße Sehnsucht durchzog mein Herz beim Anblick von Florenz, und voller Begierde haschte ich nach einem Eindruck von Rom. Unser Flugzeugführer war nett, er ließ uns zu sich in die Gondel kommen, und flog jeweils die Tangente, die die beste Aussicht gewährte. Während des Fluges bekamen wir Sandwiches und einen Becher Kaffee.
    Wie die Kinder freuten wir uns darauf, im wärmeren Klima des südlicheren Neapel unser Prager Idyll fortzusetzen. Die ganzen Stunden standen noch und immer wieder unter dem Obertitel Befreiung. Befreit fühlten wir uns von Angst und Schrecken, von Terror und Unterdrükkung, von Mord und Krieg, befreit von der bitteren Notwendigkeit, sich schützen und verteidigen zu müssen,

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