Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
in der Völkerfamilie zurückgewonnen hatte.
Unser Tagebuch aber sagt: «Wo andere so viel Grund haben, sich zu freuen, und wir so viel Grund, nicht etwa über unser Unglück zu klagen, sondern uns für andere, die mit Recht oder Unrecht behaupteten, zu uns zu gehören und uns sogar führen zu müssen, bis ins Innerste zu schämen, stellt sich bei aller geistigen Widerstandskraft doch eine tiefe Niedergeschlagenheit ein. Einer spricht es aus, die anderen denken es mit. Trotz allem begrüßen wir diesen ersten kleinen Schritt weg vom Kriege in der Hoffnung, daß das völlig negative Resultat des nach allen Vorschriften des Rezeptbuches bis zum letzten Ende durchgeführten Experimentes von 1933 nunmehr allseitig erkannt wird. Jeder mit normaler Intelligenz ausgerüstete Deutsche muß sich sagen, daß bei der im deutschen Charakter gelegenen Suche nach immer neuen Wegen die Straße von 1933 auf jeden Fall als völlig unbrauchbar abzulehnen ist.»
Günter Cords *1928
(Linz)
Am Straßenrand tauchten Trupps in grauweißen Sträflingskleidern auf. Noch nie hatte ich so entsetzlich aussehende bis auf die Knochen abgemagerte Gestalten gesehen. Eine kleine Gruppe hockte am Straßenrand um ein Feuer und rührte in Kochgeschirren herum. Als sie bemerkten, daß wir nicht zu den Siegermächten gehörten, hielten sie unsere Pferde an und untersuchten ebenfalls unsere Fahrzeuge. Auch unser Protest, alles sei genau registriert und wir führen im Auftrag der amerikanischen Armee – hinderte sie nicht daran, zwei Kisten vom Wagen zu holen. Beim Weiterfahren hockte sich eine der Jammergestalten, ein 23jähriger Pole, auf unseren Wagen. Sein Kopf, der auf einem dünnen Hals saß, erinnerte eher an einen Totenschädel oder eine Fratze als an einen lebenden Menschen, zumal er nur ein Auge hatte. Unter der Sträflingskleidung zeichneten sich die dürren Knochen ab, und längs über den Kopf verlief eine mit der Haarschneidemaschine gezogene dreifingerbreite Schneise. Es kostete mich Überwindung, ihn anzuschauen.
«Wo kommt ihr her?» fragte Ignatz. – «KZ Mauthausen.» – «Nie gehört.»
«Doch, doch», nickte er eifrig und berichtete von Tausenden von Ausländern die dort eingesperrt und heute morgen von Amerikanern befreit worden waren, und dann berichtete er von unglaublichen Zuständen, die dort geherrscht haben sollten.
*
Konrad Adenauer 1876–1967
Köln
An Colonel John K. Patterson, Militärregierung
Im Hinblick auf den bevorstehenden Himmelfahrtstag bitte ich um Mitteilung, ob dieser Tag für die Gefolgschaft der Stadtverwaltung als Feiertag und dementsprechend als dienstfrei gelten soll. Der Himmelfahrtstag ist von jeher ein hoher Feiertag gewesen, nur war er von den Nationalsozialisten während der letzten Jahre als Feiertag abgeschafft worden.
A [denauer]
Walter Ulbricht 1893–1973
Berlin
An Georgi DimitrofßGenosse DimitrofßWir haben unsere Arbeit in erster Linie auf die Auswahl von Antifaschi‑
sten für die Kreisverwaltungen und für die Stadtverwaltung von Berlin konzentriert. In vielen Kreisen waren die aus der Illegalität hervorgetretenen Kommunisten anfangs von den sich organisierenden Kreisverwaltungen isoliert. Die spontan geschaffenen KPD-Büros, die Volksausschüsse, die Komitees der Bewegung «Freies Deutschland» und die Ausschüsse der Leute des 20. Juli, die vorher illegal arbeiteten, treten jetzt offen auf. Wir haben die Büros mit Aushängeschildern geschlossen und den Genossen klargemacht, dass jetzt alle Kräfte auf die Arbeit in der Stadtverwaltung konzentriert werden müssen. Die Mitglieder der Ausschüsse müssen ebenfalls zur Arbeit in die Stadtteilverwaltungen überführt und die Ausschüsse selbst liquidiert werden. Die roten Fahrzeuge mit Hammmer und Sichel verschwinden ebenfalls allmählich aus dem Stadtbild. Im Zusammenhang mit der Bildung der Verwaltungsorgane gelingt es, einen breiten Zusammenschluss der antifaschistisch-demokratischen Kräfte herbeizuführen. Ihr Einverständnis zur Mitarbeit haben gegeben: Dr. Hermes, Prof. Sauerbruch, Prof. Gorbrandt, Stadtrat Otto Schulz, Schuldirektor Karl Schulz, der Regisseur und FilmschauspielerKarl Rühmann, Dr. Flechtheim – eine Person, die Verbindung zu vielen bürgerlichen Hitlergegnern hat, das Präsidiumsmitglied des [?] Orlopp und andere.
In einer Reihe von Kreisen ist noch die Abgeschlossenheit der Illegaltität spürbar. Die Kommunisten haben dort noch wenig Verbindung zu den Menschen der anderen Schichten und politischen
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