Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Sieg in Europa.
Ich halte ein Glas Bier in der Hand, schaue in das durchsichtige gelbe Getränk, und meine Gedanken wandern. – Das ist also das Ende. Sieht so der Frieden aus? Empfindet man ihn so? Hier sitzen wir, eine Gruppe von Männern, die vor langer Zeit Haus und Familie verlassen haben, die sich loslösten von der Routine des täglichen Lebens in der Vergangenheit, um ihr Leben in der Zukunft zu sichern. Hier sitzen wir, glücklich, mit heilen Gliedern und Sinnen durch diese Jahre voll Gefahren und Schrecken gekommen zu sein. Aber wo ist die Freude, die Begeisterung, die von uns erwartet werden kann? Nichts dergleichen – ein Lächeln hier, ein Schmunzeln da, ein Witz, während man das Bier trinkt. Die Zeit vergeht mit dem Austausch von Erinnerungen – Erinnerungen an vergangene Zeiten, schwere Kämpfe, Freunde, die gefallen sind. Schwer lastet auf jedem die Vergangenheit. Man spürt ihren Druck. Auch ich spüre ihn. Für fünf Jahre, acht Monate und fünf Tage tobten die Kriegsfurien über Europa und Afrika, starben Millionen, litten Millionen, wurden Städte verwüstet, Industrien und Landwirtschaft zerstört, wurde der Tod in Form von Bomben und Minen über Felder und Wälder gesät. Energien und geistige Schöpfungskraft der Menschen konzentrieren sich in erster Linie auf Mittel zur Vernichtung der Zivilisation des zwanzigsten Jahrhunderts – soweit überhaupt von Zivilisation noch die Rede sein konnte. Für über fünf Jahre herrschte körperliche und geistige Knechtschaft über dem europäischen Erdteil, war Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit identisch mit der Gefahr eines qualvollen Todes.
Und doch hat jedes Ding zwei Seiten – auch der Krieg. Er förderte die Zusammenarbeit zwischen Individuen und Nationen, machte die Rücksichtnahme auf andere erforderlich, zeugte die Erkenntnis der Notwendigkeit, sich mit dem Schicksal und den Bedürfnissen des Nachbarvolkes zu befassen. Er brachte einen in Verbindung mit Menschen aus den verschiedensten Ländern, mit den verschiedensten Anschauungen politischer oder religiöser Natur. Er verhalf zur Erweiterung des Blickfeldes und einer klareren Erkenntnis der Dinge, die sich auf der Bühne des Weltgeschehens abspielen. Meine persönliche Bilanz sind der Verlust von sechs der kostbarsten Jahre meines Lebens und der Zusammenbruch meiner Ehe. Als Entschädigung habe ich das Bewußtsein, in den letzten Jahren des Krieges meine Aufgabe als jüdischer Soldat dem jüdischen Volk gegenüber erfüllt zu haben, indem ich Menschen helfen und Gemeinden wieder aufrichten konnte.
Es ist fast Mitternacht. Ich sitze noch und schreibe, denn ich bin noch nicht in der Lage, mich hinzulegen. Oft hatte ich mich gefragt: «Wie wirst Du reagieren, wenn das Ende da ist? Begeisterung? Rührung? Aufatmen?Apathie?» Es ist eigentlich eine Mischung der letzten beiden Gefühle – der Anti-Klimax nach all der Spannung. Draußen gehen weiter Raketen hoch und Gewehrschüsse knallen. Zum letzten Mal?
Gerhard Hessel *1912
Kriegsgefangenenlager
Bad Kreuznach
Das Lager Kreuznach. Kein Ruhmesblatt. Weder für die Amerikaner noch für die deutsche Armee. Und für mich schon gleich gar nicht. Der Null-Punkt war erreicht. Nun war ich ganz unten. Hinter Stacheldraht. Jammern ist hier nicht. Die Verhältnisse waren so. Die Gegend war gut gewählt, eine flache, endlose Mulde, das Nahetal. Kein Baum, kein Strauch, kein Dach, kein Zelt. Von oben Dauerregen, von unten triefende Nässe. Hinlegen? Das war nicht zu raten, sind viele nicht mehr aufgestanden. So schlief man im Stehen, im Hocken. An Wasser kein Mangel, das transportiert sich leicht und rinnt aus dem Schlauch. Aber Hunger. Verpflegung blieb aus, oft tagelang, dann einmal am Tag, irgendwann und ungekocht. Von den Latrinen will ich nicht reden, da sind manche kraftlos hineingefallen. War ja auch nichts zu scheißen. Dann kam die Ruhr. Wer das nicht erlebt hat, begreift gar nichts. Und da es keine Sanitätsversorgung gab – woher denn auch –, war dies das «Aus!». Ab ins Massengrab und Kalk drauf. Morgen für Morgen dasselbe. Nichts mehr mit «... für Führer und Vaterland». So ehrenvoll gibt sich der beschissene Tod nicht. Wo bleibt da die Ehrfurcht? Nur gut, daß uns der zweite Weltkrieg keine Kriegerdenkmäler beschert hat.
Tage, Tage, Wochen, Wochen. April, Mai, Juni ... Was heißt da Zeit? Ein Greuel? Man kann’s vergessen. Der Ami war einfach überfordert, damit hatte er nicht gerechnet. In den obersten Stäben eine
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