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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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gegen Phrasen sehr empfindlich geworden. Auch gegen liberale Phrasen. Auch gegen Phrasen aus Übersee. Die Sieger, die uns auf die Anklagebank verweisen, müssen sich neben uns setzen. Es ist noch Platz.
    Wer hat denn, als längst der Henker bei uns öffentlich umging, mit Hitler paktiert? Das waren nicht wir. Wer hat denn Konkordate abgeschlossen? Handelsverträge unterzeichnet? Diplomaten zur Gratulationscour und Athleten zur Olympiade nach Berlin geschickt? Wer hat denn den Verbrechern die Hand gedrückt statt den Opfern? Wir nicht, meine Herren Pharisäer!
    Sie nennen uns das ‹andere› Deutschland. Es soll ein Lob sein. DochSie loben uns nur, damit Sie uns desto besser tadeln können. Beliebt es Ihnen, vergessen zu haben, daß dieses andere Deutschland das von Hitler zuerst und am längsten besetzte und gequälte Land gewesen ist? Wissen Sie nicht, wie Macht und Ohnmacht im totalen Staat verteilt sind? Sie werfen uns vor, daß wir nicht zu Attentaten taugen? Daß noch die Trefflichsten unter uns dilettantische Einzelmörder unübertrefflicher Massenmörder waren? Sie haben recht. Doch das Recht, den ersten Stein gegen uns aufzuheben, das haben Sie nicht! Er gehört nicht in Ihre Hand. Sie wissen nicht, wohin damit? Er gehört, hinter Glas und katalogisiert, ins Historische Museum. Neben die fein säuberlich gemalte Zahl der Deutschen, die von Deutschen umgebracht worden sind.
    Der Äther ist geduldig. Stalin hat erklärt, Deutschland solle nicht zerstückelt werden. Doch es müsse sich selbst ernähren, haben englische Minister geäußert. Man werde nur eingreifen, falls Hungerepidemien aufträten. Hauptmann Gerngroß hat mitgeteilt, daß die unverbesserlichen Anhänger Hitlers nur nördlich des Mains lebten. Und der Sender Vorarlberg pries die engelhafte politische Unschuld der Österreicher. Das künftige Schicksal des Altreichs gehe sie nichts an. Es interessiere sie nicht. Ihre Freunde wohnten hinter anderen Grenzen. Die Unschuld grassiert wie die Pest. Sogar Hermann Göring hat sich angesteckt. Er sei von Hitler zum Tode verurteilt und von der SS inhaftiert worden. Erst Angehörige der Luftwaffe hätten ihm das Leben gerettet. Man sieht, der Engel der Unschuld hat sich mit fast jedem eingelassen, und nun wollen sie alle ins Krankenhaus.
    Prag und Dresden sind eingenommen worden. Mayrhofen verwaltet sich selber. Nach 21 Uhr darf niemand mehr auf der Straße sein. Und ein Anschlag besagt, daß wir, die Flüchtlinge, wegen der angespannten Ernährungslage, ausgewiesen werden sollen.
    Görings Adjutant
Zell am See
    Vormittags grosses Packen, Toni hat grosse Sorge mit der Verteilung der Kraftfahrzeuge. Um 12.00 Uhr ist Abfahrt, erster Wagen Schw. Christa und ich, dann RM [Reichsmarschall] mit Familie, Robert, Gerch und alles andere hintennach. Der Pass ist wie üblich verstopft, zum grossen Teil durch SS, die sich zum «Partisanenkampf» in die Berge zurückziehen will, zunächst aber mal besoffen ist und Mädchen mitgenommen hat. Nach vier Stunden ist die Überfahrt der ersten Wagen geschafft, bis zum Abend die der übrigen. Wir rasten inzwischen in der Sägemühle von Untertauern, wo RM bald von Soldaten und Zivilisten umringt ist, die voller Erbitterung sein Schicksal hören und sich ihm, gleich zu welcherAufgabe, zur Verfügung stellen wollen. So war es ja auch in den letzten Tagen in Mauterndorf: was an Luftwaffen-Soldaten aus dem Süden kam, stellte sich RM zu seiner Sicherung sofort und bedenkenlos zur Verfügung: «Unsere Ehre ist die Treue.»
    In Radstatt ist inzwischen eine Sperre auf Befehl der Amerikaner errichtet worden, und deutsche Offiziere wachen sorgfältig darüber, dass sich ja kein Soldat von der russischen Seite auf die amerikanische rettet! Nach langem Palaver lässt er uns durch. Kurz hinter dem Ort kommen uns zwei amerikanische Wagen entgegen. Es ist 20.10 Uhr. Der Limousine entsteigt ein General und Major Müller. RM steigt aus, geht auf den General zu, und es ergibt sich eine Begrüssung, wie sie formvollendeter bei einer Gefangennahme wohl nicht vor sich gehen könnte. Der General, es ist der stv. Div. Kdr. der 36. Div. Texas, General Stake, teilt RM mit, dass sein Schreiben angekommen und weitergeleitet sei, eine Antwort aber noch ausstehe. Er bittet ihn, für die Nacht in einem vorbereiteten Haus in Zell am See Quartier zu nehmen. An der Spitze der Kolonne fahrend, führt er uns dann dorthin, in die ehemalige Reitschule der SS. In der Küche sitzen einige SS-Führer mit ein paar

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