Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Fehleinschätzung, eine falsche Entscheidung, solche Massen auf engstem Raum zusammenzuballen, das mußte schiefgehen. Man hätte sie sich sollen verlaufen lassen. Davon war nichts mehr zu fürchten. Da liegt’s, die Furcht wirkt nach. Und dann die Administration, der helle Wahnsinn. Dieser Menschenbrei, der letzte Matsch eines zu Ende gekommenen Krieges, mußte – «mußte?» – auch noch sortiert, registriert, mit ordentlichen Papieren versehen und entlassen werden. Im Sommer ’45 wurde Kreuznach aufgeteilt, mit Schub ab ins Entlassungslager, ab nach Babenhausen.
Doch bevor ich dort ankomme, will ich meines Lehrers gedenken, er hat sich’s um mich verdient. Ein Greizer Landser, älterer Mensch, Vornamens «Willi», im Frieden – wann war das? – Omnibusfahrer bei den Greizer Verkehrsbetrieben. Ein Asket, der einzige dieser Spezies Mensch, den ichje kennen lernte. Ein Alpinist des sechsten Grades, zäh und entschlossen nicht aufzugeben. Der lehrte mich, das bissel Verpflegung, diese Handvoll nach einem hungrigen Tag, einfach wegzuwerfen: «Tritts in den Dreck, Du brauchst es nicht!» Er lehrte, mich zu konzentrieren. Da war fern am Horizont, außerhalb des Lagers, ein Kugelbaum, auf den hin konzentrierten wir uns, heißt, ich hab’s erst gelernt. War gar nicht mal so schwer, denn Bedürfnisse besaßen wir keine, nur muß man sie auch noch vergessen.
Vergessen muß man auch, was um einen herum vorgeht. Das war schon schwerer im Chaos der Masse. Nichts wahrnehmen, selbst die Wahrnehmung vergessen, bis zur Reduzierung der animalen Funktionen. So hockten wir stunden-, tagelang mit Blick auf den Kugelbaum, die Zeit auch vergessend. Vielleicht – frage ich mich, war dies das höchste Maß an Freiheit, das ich je genossen.
Ich blicke auf Kreuznach zurück ohne Zorn. Eine Lektion in der Geschichte verlorener Kriege auf der Verliererseite. Ein Seitenblick auf die Menschheit außer Rand und Band, nicht gerade ermutigend für Gottes Ebenbild. Und ein Stück eigener Erfahrung – «... ein Schatten fällt von jenem Leben in die anderen Leben hinüber, und die leichten sind an die schweren wie an Luft und Erde gebunden.»
Elfie Walther *1928
(KZ Sandbostel)
Sie sterben uns unter den Händen weg. Wir können nicht viel helfen. Wenn wir morgens kommen, müssen wir erst einmal den Dreck wegmachen. Vor fast jedem Bett liegt ein Haufen, und überall finden wir Urinlachen, aber wir dürfen uns nichts anmerken lassen. Sie denken ja, wir seien Krankenschwestern.
Sind wir fertig und haben alles mit Lysol aufgewaschen, fängt es wieder von vorn an.
Es kommen immer mehr Kranke. In unserem Komplex sind 6 Baracken. Alle sind überbelegt. Heute sollen 600 Neue kommen. Aber es sind gestern und heute über 100 Menschen gestorben.
Im ganzen – so sagte mir ein englischer Soldat – liegen im Lager ca. 3000 Menschen.
Die Arbeit ist schwer und anstrengend. Meine Beine und Hände sind dick geschwollen vom Laufen und Kannenschleppen.
Die Patienten wollen den Brei nicht mehr. Wenn wir mit den Kannen in der Tür erscheinen, werfen sie mit Bechern nach uns.
Sie wollen Brot haben. Kann ich verstehen! Aber es gibt noch nichts. Die Engländer haben mit der Beschaffung große Schwierigkeiten.
Viel schlimmer als unsere körperliche ist unsere seelische Verfassung. Diese Eindrücke werden wir bestimmt nie mehr los. Es läßt sich auch gar nicht mit Worten beschreiben, was wir hier erleben.
Heute wurden die Patienten gewaschen. An den beiden ersten Tagen sind wir nicht dazugekommen. Jetzt liegen sie alle nackt in den Betten, und einige sind schon etwas munterer geworden, springen sogar so im Zimmer herum.
Ich glaube, sie kommen erst jetzt so richtig dahinter, daß sie von den Deutschen befreit worden sind.
Abends:
Ich habe schlimme Halsschmerzen. Der englische Arzt hat mich untersucht. Angina, meint er. Dagegen könnten sie nichts tun. Es gibt kaum Medikamente. Wir bekommen jedenfalls nichts. Einige von uns haben schon so komische Läusekappen auf. Viele liegen mit Fieber und Durchfall auf den Strohsäcken. Wir müssen ihre Arbeit mit übernehmen. Heute nachmittag war ich nahe am Verzweifeln. Inge ist nun auch ausgefallen, und ich stehe ganz allein vor der Arbeit in unserer Baracke. Da nun alles langsamer geht, werden einige Patienten ziemlich aggressiv, so daß ich richtig Angst bekommen habe. Gott sei Dank ist da auch ein Zimmer, in dem so nette und gebildete Leute liegen. Sie kommen aus Holland und Belgien. Einige sind Ärzte, und
Weitere Kostenlose Bücher