Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Richtungen. Da es weder Zeitungen noch politische Schulungen gibt, ist für die genügende Orientierung der Genossen längere Zeit erforderlich.
Vorschläge: Wir haben Maron und Schwenk als Stellvertreter des Bürgermeisters, Lorenz und Erpenbeck für die Abteilung Volksbildung und Gyptner für die Kaderabteilung vorgeschlagen. Ich brauche dringend weitere Mitarbeiter: zehn qualifizierte Instrukteure-Kommunisten für die Arbeit in den Kreisverwaltungen und in Brandenburg, einen Mitarbeiter für Kaderfragen und eine Sekretärin mit Stenographiekenntnissen. Ich schlage Försterling vor. Wenn er noch krank ist, so muss ich Köppe nehmen. Die Arbeit wird leichter, da die Referenten für Kaderfragen in den Kreisverwaltungen Kommunisten sind. Für die Schulungsarbeit wird Zaisser benötigt. Für die Propaganda und für die weitere Bearbeitung von Dr. Hermes brauche ich Hörnle. Für die Auswahl von Gewerkschaftskadern nehme ich Chwalek. Zehn Kriegsgefangene habe ich auf die Kreisverwaltungen verteilt. Ich brauche Kohlmey und zehn Gehilfen für die Arbeit in der Abteilung Volksbildung der Kreisverwaltungen. Es wäre erwünscht, dass Hans Becher Ende Mai zur Arbeit unter der Intelligenz hierherkommt. Ich bitte um Ihre Meinung, ob ungefähr 2 Wochen nach der Organisierung der Stadtverwaltung mit der Herausgabe einer antifaschistisch-demokratischen Zeitung begonnen werden kann. Zur Vorbereitung der Zeitung und des Verlags brauche ich Genossen Wendt. Eine Reihe leitender Genossen sind aus dem Gefängnis gekommen. Die Liste schicke ich nach.
Ulbricht
Politische Verwaltung der I. Belorussischen Front
Wilhelm Hausenstein 1882–1957
Tutzing
Seit zwei Wochen lese ich Hermann Grimms Goethe-Biographie. Starker, sehr starker Eindruck. Ich schäme mich, so spät an dieses Buch geraten zu sein. In den nächsten Tagen einige Auszüge machen. Heute bloß dies: 1. Die Analyse des Verhältnisses zwischen Goethe und Frau von Stein scheint mir, so sehr sie differenziert, nicht zuzureichen. Ich habe den Eindruck, es fehle dem Aspekt die reale Faser. Die reale: ich meine nicht das Physische, sicher nicht die Frage nach dem Physischen allein, sonderndie Abwesenheit (relative Abwesenheit) einer Intensität in der Vorstellung von der Beziehung – eben der Intensität des Wirklichen . 2. Der Protestantismus Grimms schränkt das Urteil ein. Die großartige Rückperspektive auf die römische «Welt», auf die Geschichte Roms leidet merklich und verstimmend an der Unzulänglichkeit der Vorstellung vom Rom des neunzehnten Jahrhunderts. Der Protestant vermag die Realität des geistlichen Roms im neunzehnten Jahrhundert nicht zu verspüren.
Das ist aber auch alles, was ich, vom ersten Band und vom Anfang des zweiten her einzuwenden hätte, es sei denn noch die fühlbare, ja drastische Überschätzung Luthers, den Grimm auf eine dieser Persönlichkeit längst nicht zukommende Höhe setzt. Aber abgesehen davon: welch eine Biographie!
Ein Thema für ein Buch, das bald von einem Kundigen geschrieben werden müßte: «Goethe und die Deutschen». Es würde zu verdeutlichen sein, wie wenig Goethe auf die Deutschen gewirkt hat. Heute hat er überhaupt keine öffentliche Existenz mehr – denn daß auch heute noch akademische Vorlesungen über ihn gehalten werden, bedeutet noch lange keine Existenz!
In Frankreich: Corneille, Racine und andere haben den Stil der nationalen Sprache und Denkungsart bis heute bestimmt. Theater, Parlament, Volksversammlung: man lebt in Frankreich aus dem grand siècle. Deutschland lebt in seinen öffentlichen Äußerungen, in seiner nationalen Geisteshaltung ganz und gar nicht aus Goethe: es ist, als hätte er nie existiert, nie geschrieben.
*
Der britische Sergeant Martin Hauser *1913
bei Triest
22.30 Uhr. Während ich diese Zeilen schreibe, höre ich draußen Gewehrschüsse, das Knallen von Feuerwerk, das Singen der Menschenmenge, die sich durch die engen Straßen dieses Dorfes wälzt, ganz in der Nähe von Triest. Es ist Nacht, und durch die Fenster dringt der Schein von roten, grünen und weißen Leuchtkörpern, die gegen den dunklen Himmel fliegen und für einen Augenblick mit dem Glanz der Sterne konkurrieren. Die Welt feiert das Ende des Krieges in Europa.
Ich sitze hier in der Garage einer kleinen neuseeländischen Unit. Im Radio wurde vor einigen Minuten bekanntgegeben, daß die Deutschen sich ergeben haben, daß heute nacht Churchill zum englischen Volk sprechen wird, daß morgen der «Siegestag» sein wird –
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