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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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geläutet und den sich versammelnden Bewohnern des Spitals mitgeteilt, daß der Krieg zu Ende ist. Später muß ich mich, trotz der großen Müdigkeit, in die Pflanzung schleppen, um zu sehen, was dort gearbeitet wird.
    Erst am Abend komme ich zur Besinnung und kann versuchen, mir vorzustellen, was das Ende der Feindseligkeiten in Europa bedeutet und was die vielen Menschen empfinden müssen, die seit Jahren die erste Nacht ohne Angst vor drohender Bombardierung erleben dürfen. Während draußen im Dunkel die Palmen leise rauschen, hole ich das Büchlein mit den Sprüchen Laotses, des großen chinesischen Denkers aus dem 6. Jahrhundert vor Christus, vom Schaft herunter und lese seine ergreifenden Worte über Krieg und Sieg.
    «Die Waffen sind unheilvolle Geräte, nicht Geräte für den Edlen. Nur wenn er nicht anders kann, gebraucht er sie ... Ruhe und Frieden sind ihm das Höchste. Er siegt, aber er freut sich nicht daran. Wer sich daran freuen würde, würde sich des Menschenmordes freuen ... Bei der Siegesfeier soll der Oberführer seinen Platz einnehmen nach dem Brauch der Trauerfeiern. Menschen töten in großer Zahl soll man beklagenmit Tränen des Mitleids. Darum soll, wer im Kampfe gesiegt, weinen wie bei einer Trauerfeier.»
    Ludwig Marcuse 1894 –1971
(Beverly Hills)
    Ein Leipziger Portier steht auf der Straße zwischen Trümmern und schreit: «Wir sind belogen und betrogen worden.» Ein Leipziger Professor entschuldigt sich: «Wir haben nichts damit zu tun.» Mit «damit» meint er die vergangenen zwölf Jahre. Hatten sie alle nichts «damit» zu tun? [...]
    Ich bin aber leidenschaftlich gegen den Begriff, der im «Hexenhammer» stehen könnte: Kollektivschuld. Sie ist das Produkt eines Kollektivwahns. Sie ist der Ausdruck einer Hitlermethode, die Praxis der baren Unmenschlichkeit: vom Einzelnen abzusehen und nur in Gruppen zu denken. Zwar kann das moralische Urteil über das, was in Deutschland geschehen ist, in einem einzigen Satz niedergelegt werden. Das moralische Urteil über «Das deutsche Volk», über achtzig Millionen Menschen, kann nicht aus einem Satz bestehen. Ein Mädchen, das gläubig auf der Schulbank Hitler gelernt hat, ist anders zu beurteilen als ein älterer Professor, der ungläubig von Hitler gelebt hat. Kein Verzeichnis der Greuel sollte uns dahin bringen, so unzugänglich für das Individuum zu sein, wie es die verstorbene deutsche Gewalt war.
    Wilhelm Hausenstein 1882–1957
Tutzing
    Es erschreckt, nein, es entsetzt, zu sehen, daß die Katastrophe in den Menschen keinerlei moralische Veränderung hervorbringt. Ich beobachte dies zwar bloß in dem schmalen Sektor, den ich überblicken kann (unmöglich über die Grenzen des Dorfes hinauszugehen, schon der Wald hinter dem Hause ist eine Art Wildwest, wo verdächtige Figuren streunen, und grundsätzlich ist der Austritt aus dem Dorf untersagt). Allein es ist ja leider anzunehmen, daß es anderwärts ebenso zugeht, wie hier: von den Ereignissen ist keine verwandelnde Gewalt auf die Gemüter ausgegangen – die wenigen ausgenommen, für die es des Zusammenbruchs und der von Haus zu Haus bettelnden Juden nicht erst bedurfte. Auf was um des Himmels willen warten die Menschen noch? Sie weinen, wenn man ihnen (fürs Erste) die Wohnungen wegnimmt, um Offiziere und Soldaten einzuquartieren; das heißt: sie weinen über den Verlust der noch immer hergebrachten Bequemlichkeit, aber sie beziehen nichts, rein nichts auf den Gedanken der Züchtigung, deren jeder Deutsche harren muß (jeder, und ich nehme mich wahrhaftig nicht aus). Wolltenun endlich die Kirche das Wort ergreifen! Wollte sie Prediger aussenden, wie Savonarola einer gewesen ist! Er war mir je und je schrecklich, aber jetzt wäre der Moment für ihn und Seinesgleichen reiß Indes, die Kirche hat in den verflossenen Jahren wohl allzu sehr geschwiegen – in die Tiefe und in die Breite geschwiegen, denn der eine Graf Galen hat am Ende bloß die Ausnahme demonstriert.
    Die Leute streichen heute um die drei Fahnen der Okkupation, wie sie 1933 um das rote «Banner» mit der schwarzen Spinne im weißen Rundfeld herumgestrichen sind: in fellachenmäßiger Weise unterwürfig – und schon verstehen sie, mit der neuen Situation Geschäfte zu machen! Ich warte bloß auf den Augenblick, wo die Lebensmittel den Käufern mit fremder Währung vorbehalten bleiben, nämlich von den Händlern und Bauern her. Begreiflich gewiß, wenn diese so spekulieren; nicht begreiflich, wenn es ihre einzige

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