Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Überlegung ist.
Als Margot hier ankam (und nun sind es gute fünfundzwanzig Jahre), sagte sie mir impulsiv: «Ich würde mich gar nicht wundern, wenn plötzlich alle Frauen auf der Straße sich nackt auszögen, alle Männer auf den Händen liefen, die Kinder alle mit Steinen auf jeden würfen, der nicht dergleichen tut.» Die Vision von der Verfassung der deutschen «Seele» schien mir damals absurd; inzwischen habe ich begriffen, daß ein unverdorbener Blick, von außen hereingekommen, den tatsächlichen deutschen Zustand richtig gesehen hat; was damals ein Potential war, ist inzwischen schauderhafte Realität geworden. Realität nicht buchstäblich, wohl aber weit über jenen Aspekt hinaus: das Ganze und das Einzelne der mit dem Namen «Hitler» bezeichneten moral insanity war leider mehr, unendlich viel mehr als die grausige expressionistische Farce, von der Margots Wahrnehmung damals in unmittelbar beängstigender Art heimgesucht wurde. Jene moral insanity, die Hitlers eigentliches Klima geworden ist, sein Treibhaus – jene moral insanity ist durch die ungeheure Evidenz der Katastrophe keineswegs beseitigt; sie wirkt nach, sie ist noch immer die Disposition der Leute.
Was soll der Himmel noch zulassen, damit sich dies fürchterliche Verhältnis ändert?
Die Okkupation ist von einem deutschen Publikum umlagert, das gestern noch das Parteizeichen trug oder «der Partei» hofierte. Die Okkupation merkt es nicht.
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Alexander Werth *1901
(Moskau)
Am 7. Mai kapitulierte die deutsche Wehrmacht. Jodl unterzeichnete die Kapitulationsurkunde in Reims, Keitel am nächsten Tag in Berlin. Hier unterschrieb für die russische Seite Marschall Schukow; für die Sowjets war die Kapitulation in Reims nur ein Vorspiel gewesen, zu dem man lediglich einen jüngeren Offizier geschickt hatte. Als Churchill am 8. Mai um vier Uhr nachmittags über den Rundfunk das Ende des Krieges bekanntgab, sendete Radio Moskau seelenruhig eine Kinderstunde mit einer hübschen Geschichte über zwei Hasen und einen Vogel. In Rußland wurde das Kriegsende erst am 9. Mai morgens bekanntgegeben. Der Umstand, daß für die Sowjetunion der Siegestag erst einen Tag später als für den Westen anbrach, hatte seinen Grund darin, daß Prag noch nicht befreit war. Die westlichen Alliierten hielten das für ein belangloses Detail, die Russen jedoch nicht.
Der 9. Mai wurde zu einem unvergeßlichen Tag für Moskau. Die spontane Freude der 2 oder 3 Millionen Menschen, die sich an diesem Abend auf dem Roten Platz versammelten, durch die Gorkij straße zogen und an den Moskwa-U fern entlangströmten, war so tief, wie ich es vorher in Moskau noch nie erlebt hatte. Man tanzte und sang auf den Straßen. Soldaten und Offiziere wurden umarmt und geküßt. Vor der amerikanischen Botschaft standen die Menschen dicht gedrängt und riefen: «Es lebe Roosevelt!», obwohl der Präsident bereits vor einem Monat gestorben war. (Vor der britischen Botschaft, die sich, auf dem anderen Ufer der Moskwa gelegen, von dem eigentlichen Schauplatz der Freudenkundgebungen entfernt befand, gab es nur ein paar kleinere Sympathiedemonstrationen.) Etwas Ähnliches hatte es in Moskau nie zuvor gegeben. Das Feuerwerk, das an diesem Abend abgebrannt wurde, war das größte, das ich je gesehen habe.
Der Rotarmist Ilja Kritschewski *1907
Berlin
Meine Kommandierung ging zu Ende. Abends mußte ich mich wieder in der Redaktion einfinden, die jetzt in einem Vorort von Berlin stationiert war.
Der Tag war frühlingshaft, sonnig. Leichte, wie mit Wasserfarbe hingetupfte Wölkchen zogen langsam über den Himmel. Vor dem Reichstag lärmte ein ausgewachsenes Feldlager. Soldaten rasierten sich direkt auf der Straße, vor Spiegeln, die irgendwie auf der Panzerung von Kampfwagen aufgestellt waren.
Ich machte mich auf einen Streifzug durch die Stadt und hielt Ausschau nach charakteristischen Eindrücken. Ein Militärangehöriger malte eineStudie auf Leinwand; als Staffelei diente ihm eine Autokarosserie. Ich trat näher: Womöglich ein Bekannter? In diesen Tagen begegnete ich vielen Menschen, mit denen mich das Schicksal in unterschiedlichen Kriegsjahren zusammengeführt hatte. Mir schien allmählich sogar, daß alle Frontstraßen nach Berlin geführt hatten. Aber diesen Mann kannte ich nicht. In Gedanken wünschte ich ihm erfolgreiches Schaffen, dann ging ich weiter.
Schon lange faszinierte mich das Brandenburger Tor. Ich ging zur Straße Unter den Linden. Von dieser geradlinigen mit Linden
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