Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Teufel, die Schlangen der Kindheit oder der Tod, am meisten Angst hatte ich vor den Deutschen. Noch immer träume ich regelmäßig von ihnen. Und in meinen Träumen bin ich immer schuldig. Die Deutschen sind die ewigen Sieger. Es handelt sich stets um das gleiche Szenario: Ich gehöre zur Résistance und werde verraten. In meinen Träumen kehren die Deutschen seit fünfzig Jahren nach Paris zurück.
An die Umstände der Niederschrift von «Der Schmerz» erinnere ich mich überhaupt nicht mehr. Das Buch erschien vor einem Jahrzehnt – ich hatte es völlig vergessen und das Manuskript per Zufall in meinem Landhaus wieder gefunden. Darin steht zu lesen: «Wenn man aus den Nazigreueln ein deutsches Schicksal macht, schränkt man den Menschen von Bergen-Belsen auf die Dimension einer Regionalfigur ein. Die einzige Antwort, die sich auf dieses Verbrechen geben läßt, ist die, darausein Verbrechen aller zu machen. Es zu teilen. Ebenso die Idee der Gleichheit, der Brüderlichkeit.» Als ich diese Texte nach vierzig Jahren wieder las, wurde ich krank und mußte mich behandeln lassen. Es war mir unerträglich, an sie erinnert zu werden. Ich muß sie unmittelbar nach dem Krieg geschrieben haben, aber wahrscheinlich erst 1946. Noch 1945 wäre ich dazu nicht in der Lage gewesen.
Paul Valéry 1871–1945
(Paris)
Völkerbund: «Société des Nations». Schon der Name bezeichnet eine Absurdität. Denn beim Begriff Nation selbst (im politisch-juristischen Sinne) muß man ansetzen.
Nation bedeutet Verschiedenartigkeit, Gegensatz, Konkurrenz, Eifersucht usw. konventionellen oder historischen Ursprungs (was auf dasselbe herauskommt, denn was wegen der Vergangenheit existiert, das existiert als Wertkonvention des Verschwundenen– genau wie das Erbrecht existiert – welches traditionell und anfechtbar ist). Es gibt auch echte Vergangenheitswerte, das sind die unbewußten, die nicht-erlernten, vielmehr erworbenen.
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Von den Fehlern der Nation. Wer wird es wagen, sie zu beleuchten? Voltaire empfand sie sehr stark – Und seither sind sie ungehindert angewachsen – Sie haben die Macht übernommen.
Keine Regierung kann versuchen, die Nation «umzuerziehen» – Und besonders keine demokratische. Ganz gleich, wie im übrigen der Name lautet – jedes Regime ist hierbei «demokratisch» – also dem Augenblick unterworfen.
Unsere großen Mißerfolge haben ihre Quelle in der Unfähigkeit zu längerfristiger Vorausschau – und zu einem Handeln gemäß dieser Vorausschau auf Kosten der Bequemlichkeit des Augenblicks. (Unabsetzbarkeit) – Es ist klar, daß es auf Kosten der augenblicklichen Freiheit geht, wenn man etwas tut, wozu im Augenblick nichts nötigt – Es ist klar, daß das «Nach mir die Sintflut» nicht nur ein Monarchenwort ist.
– «Sich mit wenigem begnügen» ist auch eine Rechtfertigung für Geiz und damit fürs Ungepflegte, Schmutzige – eine schäbige Tugend. Derlei Sparsamkeit ist eine Verirrung. Dahinter steckt Angst vor der Zukunft, vor dem nächsten Tag, und also wird gehortet, zugleich aber wird wirkliche Vorausschau abgelehnt. [...]
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Kein Volk Europas sollte die Eigenschaften gehabt haben, die notwendig gewesen wären, um sich durchzusetzen und eine gemeinsame lebensfähige Organisation zu errichten. Und zwar seit den Römern.
Europa ist am Ende seiner Karriere. Siehe Weltkarte. 1945 – 1815 = 130. Die religiöse Einheit verfehlt – 3 widerstreitende christliche Religionen. Verhängnisvolle Rolle der «Nationen» – keine Vorteile dieser historisch- politischen Formation bei klar erwiesenen Gefahren. Absurde Personifizierungen.
Albert Schweitzer 1875–1965
(Lambarene)
Die Nachricht von dem Aufhören des Krieges in Europa erhalten wir am Montag, dem 7. Mai, um die Mittagszeit. Während ich nach dem Essen an meinem Tische sitze, um dringende Briefe fertigzustellen, die um zwei Uhr auf den zum Meer hinabfahrenden Flußdampfer gebracht werden sollen, taucht vor meinem Fenster ein weißer Kranker auf, der seinen Radioapparat mitgebracht hat. Er ruft mir zu, daß nach deutschen Meldungen, die von der Radiostation Leopoldville in Belgisch-Kongo weitergegeben werden, in Europa ein Waffenstillstand zu Wasser und zu Lande abgeschlossen werden soll. Ich aber muß am Tisch sitzenbleiben, um mit den Briefen, die alsbald fortmüssen, fertig zu werden. Nachher muß ich ins Spital hinunter, wo die Herzkranken und andere Patienten auf zwei Uhr zur Behandlung bestellt sind. Im Laufe des Nachmittags wird die Glocke
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