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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Mehrere hundert Tote waren im Hafengebiet zu verzeichnen, und die Todesrate nahm zu.
    Die für pseudomedizinische Versuche mißbrauchten 20 jüdischen Kinder und weitere 28 Betreuer der Kinder und sowjetische Kriegsgefangene wurden am Abend im Heizungskeller der Schule am Bullenhuser Damm erhängt.
    Ein Jugendschaftsführer
Waren/Mecklenburg
    Nach Beginn der Oderschlacht entluden wir pausenlos Verwundetenzüge und Lastkähne, in denen die Verwundeten notdürftig verbunden ankamen. Einen Vorfall werde ich nicht vergessen. So um den 20.4. 1945 mußten wir auf dem Bahnsteig zurücktreten. Nur wir Jungen in unseren Uniformen und Reichsbahner blieben zurück. Alle Zivilisten mußten den Bahnhof räumen. Dann kam ein riesiger Güterzug. Alle Waggons waren vergittert mit Stacheldraht. Jeder Waggon war vollgepfercht mit Frauen in KZ-Kleidung. Sie schrien nach Wasser. Davor patrouillierten Frauen in SS-Kleidung mit Pistolen und Peitschen. Niemand durfte an den Zug. Es wurde nur die Lok gewechselt. Dann rollte der Zug weiter in Richtung Güstrow. Unten aus den Waggons trieften die Fäkalien.
    *
    August Richard Protz
Lager 2 Aschendorfer Moor
    (Emsland)
    Am 20. April war der Rest, darunter auch ich, als ein regelrechter Leichenzug wieder im Lager 2 gelandet. Hier herrschte der 2. Hauptmann von Köpenick, ein sich selbst als Offizier beförderter Schornsteinfegerlehrling namens Herold. Dieser Stift ließ sämtliche V. +F. Träger, die angeblich auf dem Todesmarsch bei den Moorkolonisten geplündert hatten, rausrufen aus sämtlichen Baracken. Jeder bekam einen Spaten und es ging zum nahen Waldrand. Hier wurden Gräben in Länge jeder Gruppe von 2 m Tiefe von den Häftlingen ausgeworfen. War die Tiefe erreicht, hieß es, Spaten raus und der wahnsinnige Herold schoß mit seiner 2cm Pakkanone, die auf einem Kraftwagen montiert war, auf diearmen Menschenleiber, bis sich alles krümmte im Graben. Dann mußte die nächste Gruppe die Gräben mit den sich noch bewegenden Leibern zuschaufeln. So wurden 80–90 junge Menschen hingemordet. Gott sei ihnen gnädig.
    Für uns, die wir wegen Feindannäherung und Fliegergefahr nicht aus den Baracken rausdurften und schon tagelang nicht gegessen hatten, hatte der Engländer bzw. die in englischen Diensten stehenden Polen (Poland) eine große Überraschung vor. Um die Mittagszeit begann die englische «Ari» ein mörderisches Feuer auf die Elendsbaracken zu eröffnen, wobei zu erwähnen ist, daß durch Fliegereinsicht und wohl in der ganzen Welt bekannt war, daß solche Barackenlager im ganzen Emsland nur staatsfeindliche Häftlinge beherbergten.
    Nachdem nun die Baracken 2 und 3 und die Latrinen in hellem Feuer standen und die Schreie der getroffenen Leidensgenossen über die Barackenstadt hallten, setzte der Tommy seine Moskitos und Jabos gegen die armseligen Menschen ein. In Schwärmen kamen sie und überschütteten die Baracken mit 2cm Explosivgeschossen, bis alles brannte und drinnen alles verreckte [...]
    Mit Aufbietung aller noch vorhandenen Kräfte kroch ich durch die brennende Hintertür unserer Baracke 13 ins Freie und ließ mich in ein von Genossen verlassenes Erdloch fallen. Dies war meine Rettung, denn nun setzte ein Bombardement ein seitens der Flugzeuge, das alles überbot. Mit infernalischem Geheul stürzten sich die Moskitos auf die Reste der noch stehenden Baracken und sogar die außerhalb des Lagers stehenden Torfmieten waren als «Kampfobjekt» das Ziel ihrer Tod und Verderben speienden Mgs und Bomben. Fürwahr, ein ruhmvolles Kampfgeschehen! – und ich mußte unwillkürlich an das Warschauer Ghetto 1941 denken.
    Die englischen Piloten sahen die verwundeten Elendsgestalten rumkriechen, aber sie mordeten ruhig weiter und vollendeten das Werk eines böhmischen Deserteurs und Gefreiten.
    Lager 2 Aschendorfer Moor, welches soviel Leid und Grausamkeit in sich barg, war nicht mehr. Wie ein Fanal schlugen die Flammen zum Himmel und löschten alles aus, was an irdischen Überbleibseln Hitlers Schergen zum Verderb Deutschlands Söhne und Töchter ersannen. Wir, ein Häuflein Verkommener mit Phlegmone und Hungeröden behafteten Menschen wurden ins Moor gejagt. Hier gruben wir uns in die Torfmieten Löcher und legten uns auf die einzige Decke, die ich im Lager fand und hierher mitnahm. Regen setzte ein und ich lag im durchgesickerten Moorwasser. Wie lange ich dort lag, weiß ich nicht mehr, dennmein Hirn und mein Körper waren von den Geschehnissen und Anstrengungen zu Tode erschöpft.

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