Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
mein Klavier. Bilder von all meinen Lieben. Dann spielte ich: «Ave Maria» von Bach-Gounod. Wie oft hatte ich es in guten Tagen gespielt, mein Leib- und Magenstück.
Erst fünf Jahre später wurden bei Erdarbeiten im Tiergarten südlich der Sommerstraße Skeletteile gefunden und dabei auch Fetzen einer Karte zum Postsparbuch. Ich hatte damals das Sparbuch, und er behielt die Karte bei sich. Das Hauptpostsparamt war in Wien, von da aus hat man den Eigentümer ermittelt. Es muß wohl unser Vater gewesen sein, denn er war ja auch in der Gegend zum Einsatz vorgesehen, für Goebbels’ Privatvilla!! Er wurde dann in einem Massengrab in Berlin-Plötzensee beigesetzt.
Die Künstlerin Eva Richter-Fritzsche 1908–1986
Berlin
Als ich nach Hause kam, erfuhr ich von Frau Simke, daß es auf die zugeteilten Lebensmittelkarten Kaffee und Butter geben würde. Das Lebensmittelgeschäft lag gleich um die Ecke, und so machten wir uns auf den Weg, um unsere Ration zu holen.
Die Russen waren schon nach Köpenick vorgerückt und beschossen mit Granaten Adlershof. Häuserfronten und zum Teil einzelne Häuserwurden erbittert umkämpft. Unter dem Donner der Geschütze mußten wir nach Hause laufen. Frau Simke war gerade in unserem Hausflur, ich selber hielt schon den Knauf der Eingangstür in der Hand, als das Unglück geschah. In unmittelbarer Nähe schlug unter lautem Krachen eine Granate ein, deren Geschoß mich traf. Ich sank unter von mir nie zuvor ausgestoßenem Geschrei zu Boden. Das Unglück geschah und, wie mir später bewußt werden sollte, der Abschied von dem mir bisher verbliebenen gesunden Leben; unfaßbar für mich, nach der überstandenen Flucht und dem Überleben der Tieffliegerangriffe auf dem Fluchtweg über das Frische Haff.
Das Geschoß hatte meinen Unterschenkel zerfetzt. Die Ärzte versuchten alles, um das Bein zu erhalten. Doch einen Tag später erklärte mir die Ärztin, daß das Bein amputiert werden müßte. Ich konnte in diesem Augenblick nicht zu Gott beten, ich habe an seiner Existenz gezweifelt. Ich gab die Zustimmung zur Operation in der stillen Hoffnung, danach nicht wieder aufzuwachen. Doch drei Stunden nach der Operation holte mich die Schwester ins Leben zurück.
Ich erwachte mit nur noch einem gesunden Bein. Auf der linken Seite fehlte der Unterschenkel, und auch das Knie hatte man entfernen müssen. In der heutigen Zeit wäre die Operation anders ausgefallen.
*
Dr. Felix Kersten 1898–1960
Gut Hartzwalde
Am 19. April um 14 Uhr bin ich mit Masur [Vertreter des Weltjudenkongresses] von Stockholm abgeflogen und wurde mit einem Dienstauto der SS hierher gefahren. Masur und ich waren die einzigen Passagiere der fahrplanmäßigen Flugmaschine zwischen Stockholm und Berlin, die mit den Paketen des schwedischen Roten Kreuzes an das Rote Kreuz in Berlin vollbepackt war. Der Flug dauerte 4 Stunden, wir sahen weder alliierte noch deutsche Flugzeuge am Himmel. Als das Flugzeug auf dem Tempelhofer Feld ankam, wurden wir von einer Polizeiwache, bestehend aus 5 Mann, in strammer Haltung mit «Heil Hitler» begrüßt. Masur zog den Hut und sagte freundlich «Guten Tag.» Am Flugplatz erhielt ich den Freigeleitbrief des Reichsführers SS für Masur, von dem SS-Brigadeführer Schellenberg unterschrieben.
Um 2 Uhr früh am 20. April traf Schellenberg in Hartzwalde ein. Wir besprachen eingehend die Wünsche der schwedischen Regierung und daß Masur als Ausdruck des guten Willens so viele Juden wie möglich freizugeben seien.
Schellenberg war deprimiert, daß Himmler infolge stärksten Druckes, den die Parteileitung in der Person Bormanns auf ihn ausübte, zu neuen Konzessionen nicht bereit wäre. In stundenlanger Besprechung überlegten wir, wie man bei Himmler am besten vorgehen könnte. Schellenberg war mit mir einig, daß schnelle Hilfe nottat.
Walter Schellenberg 1910–1952
Gut Hartzwalde
Inzwischen war die Nachricht eingetroffen, daß Kersten und Norbert Masur im Flughafen Tempelhof eingetroffen und auf das Gut Kerstens in Hartzwalde gefahren seien. Da zur selben Zeit auch Graf Bernadotte in Berlin erwartet wurde, bestand die Gefahr einer zeitlichen Überschneidung beider Begegnungen, zumal Himmler angesichts der gespannten militärischen Lage schwer abkömmlich war. Himmler bat mich deshalb, noch in der Nacht zu Kersten zu fahren und vorbereitende Verhandlungen mit Herrn Masur zu führen. Zugleich sollte ich einen Termin für ein Treffen zwischen Masur und ihm vereinbaren. Ich aß noch in Hohenlychen
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