Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
eingeliefert wurden). Die Reaktion der Männer war großartig, und wir brauchten zwei Jeeps, um die Schokolade hinzubringen. Ich werde mich an diesen Besuch erinnern, weil er mir umso mehr klar gemacht hat, gegen was wir gekämpft haben – und noch kämpfen – und es machte mich sicher, daß der Tod vieler Freunde nicht vergebens war.
Der britische Captain
Maurice F. Jupp
Nordwestdeutschland
Die Insassen [von Bergen-Belsen] brauchten zwei Tage, um zu verstehen, daß es in Zukunft genügend zu essen & zu trinken geben würde. Zunächst kämpften sie um jeden sichtbaren Tropfen Wasser oder Bissen zu essen. Der übliche Wunsch sind Zigaretten: Die besseren Typen baten um nichts, oder Dinge wie Zeitschriften. Es waren auch einige SS-Hilfskräfte hier – kräftige Mädchen, die angesetzt waren, Gräber zu schaufeln & tote weibliche Insassen zu beerdigen. Auch einige SS-Wachen waren dabei. Sie brachten, gefolgt von Posten der britischen Armee, die toten Körper auf Lastwagen zu einem Beerdigungsplatz. Wenn sie durch das Lager fuhren, warfen Gefangenen, die stark genug waren, Steine nach der SS. Vorgestern verlor einer der SS die Nerven und nahm Reißaus. Er wurde von Kugeln durchlöchert. Das Gleiche geschah gestern mit drei von ihnen. Das Interessante dabei war, sagte mein Freund, daß keiner der Insassen versuchte, vor den Schüssen wegzulaufen: Tote und Geschosse usw. machten ihnen keine Angst.
*
Erich Kessler
KZ Theresienstadt
Heute war ich auf der Augenklinik, da ich im rechten Auge eine kleine Verhärtung habe, die operativ entfernt werden muß. Da die Instrumente vorbereitet werden müssen, muß ich morgen um 9 Uhr wiederkommen. Derzeit ist wenig Arbeit, so daß wir nur halbtägig beschäftigt sind. Nachmittags setzte ich mich in den Park am Hauptplatz. Heute kam der erste Rücktransport von Juden, die aus den verschiedenen Lagern in Deutschland nach Theresienstadt gebracht wurden. In ungefähr 30 Viehwaggons kamen gegen 1700 Menschen. Ein weiterer Transport von 27 Waggons steht in Bauschowitz. Der Transport ist seit dem 9. März, also 6 Wochen, am Weg. Der Zustand dieser Menschen ist grauenhaft: Halb verhungert, in Fetzen gekleidet, die Frauen kahl geschoren. Bisher wurden 70 Leichen aus den Waggons herausgehoben, die in den letzten Tagen gestorben sind. Die meisten können kaum mehr stehen. Es ist möglich, daß auch Hans unter ihnen ist, da angeblich auch aus Schwarzheide Leute dabei sind. In einigen Tagen werde ich durch die Evidenz Genaueres erfahren. Es ist furchtbar, das alles mitansehen zu müssen, wie unwürdig man mit Menschen umgeht. Daß Menschen es mit ihrem Gewissen vereinbaren können, so zu handeln. Abends kam Harry und erzählte, daß er geholfen hat, die Kranken aus den Waggons herauszuhebenund in die verschiedenen Ambulanzen zu tragen. Auch er war ganz niedergedrückt und erschüttert. Als die armen Teufel in die Krankenzimmer gebracht wurden und die weiß überzogenen Betten sahen, begannen sie zu weinen. Sie wurden entkleidet und gewaschen. Auf dem Rücken hatten sie eine fingerdicke Schmutzschicht. Dann wurde ihnen eine besonders zubereitete Suppe verabreicht, um ihre Mägen nicht zu überlasten.
Alisah Shek *1927
KZ Theresienstadt
Um 6.30 kam ein Transport von 25 Waggons, 1800 Leute, an. Es flog die Nachricht durchs Ghetto: Leute aus den Lagern.) Als sie an «Kreta» [Stadtteil von Theresienstadt] vorbeifuhren, riefen sie «Auschwitz», «Birkenau», «Hannover», «Buchenwald», sie riefen alle die grausamen Formeln aus dem Zug. Da blieb das Herz der Stadt stehen, und jetzt sind sie da. Stinkende, verpestete Viehwaggons, darin stinkende, verpestete Menschen, halb lebendig, halb tot oder Leichen. Sie drückten sich an die Fenster, furchtbare Gesichter, Knochen und Augen. 80 Frauen aus Teres [?] und sonst fast lauter Männer. Wie die aussehen. Da kam es auf uns zu, das, wovor wir zitterten monatelang. Um unser Leben und Dahinsterben geht es, um millionenfaches Leiden, ohne Erlösung, und jetzt ist es da. Es ist da. Die Restchen der Massen, die Reste der Menschen. Sie warfen Zigaretten heraus, sie zeigten sich in den Mund, sie fielen zu Boden – trinken, essen. Sie wurden in die Schleuse abgeladen – abgeladen. Der und jener ist gekommen, Namen – Mutter, Tochter, Geliebter von dem und dem. Allen gruselt. Man führt sie in Plattenwagen nach den schnell errichteten Marodenstuben, Mütter erkennen ihre Kinder nicht wieder, sie haben alle so ausgeloschene Augen. Leute werfen ihnen Brot
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