Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Anschließend wurde damit begonnen, militärische Güter und Benzin in Fässern zu laden. Diese Ladung war für die Kurlandarmee bestimmt.
Der Volkssturmmann Bruno Just
Kopenhagen
Wir sind morgens in Kopenhagen angekommen und zur Zitadelle geleitet. Wir hatten gehofft, hier wenigstens einen Tag ruhen zu können und etwas zu essen zu bekommen. Nichts wird von alledem. Wir haben nur noch 2 Stunden Zeit, uns die Stadt anzusehen. Kronen haben wir uns eingewechselt, und los geht’s in die Stadt. Herrlich ist es, hier spazierenzugehen. Nichts ist vom Kriege zu spüren. Alle Läden sind offen, und alles kann man sich kaufen. Was für ein Unterschied zwischen hier und dem, was wir in Ostpreußen verlassen haben. Dort überall Zerstörung und Vernichtung, monatelang haben wir uns nur zwischen zerstörten Häusern bewegt, die von den Einwohnern verlassen waren, nur Entbehrung, und hier nun ist alles zu haben. Die Menschen sind gut angezogen und sauber, wenn alles Weibliche auch viel im Tuschkasten zu rühren scheint, denn sie haben sich alle das Gesicht angemalt. Ich kaufe mir zuerst Schokolade. Leider sah sie nur so aus, es war Ersatz. Die Wurst war kräftig gefärbt und ungenießbar. Also auch hier sehr viel scheinbar Gutes.
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Ruth Schwarz *1926
Tapiau
Das Gefängnis war schon übervoll, als wir dort eingeliefert wurden. Männer und Frauen getrennt. Auch beim Essen. Unseren Vater sahen wir hier noch dreimal. Das erste Mal haben wir ihn gesehen, als die Männer mit LKWs aus Löwenhagen einen Tag später als wir im Gefängnishof eintrafen. Wir durften uns im Gebäude frei bewegen und schauten durch die Fenster in den Innenhof, wo sich die Männer befanden, die gerade angekommen waren. Dort entdeckten wir unseren Vater Er sah schrecklich aus. Die Männer wurden weitaus schlimmer behandelt als wir Frauen. Wer weiß, was er schon alles hinter sich hatte.
Wir waren geschockt, was dieser Haufen alter Männer, jetzt schon nach ein paar Tagen der Knechtschaft, total abgerissen, entwürdigt, zum Teil durch Schläge und Folter bei den Verhören, mit hohlen Wangen, unrasiert, verkommen und total teilnahmslos alles über sich ergehen lassen mußte. Und einer von ihnen war unser Papa. Das war die erste Begegnung.
Dann haben wir ein paar Tage nichts mehr von ihm gesehen und gehört. Noch einmal konnten wir ihn eine Minute sehen, als wir zum Essen auf den Hof gingen. Da rief er uns an, aus einem Kellerloch, auf unsere Frage «Wie gehts Dir, Papa?», sagte er: «Ich hab so den Durchfall.» Mutti sagte dann schnell: «Habt ihr da keine Holzkohle? Die kannst Du essen, das hilft!». Dann mußten wir auch schon wieder weiter. Einmal noch haben wir ihn auf dieselbe Weise gesehen, da erzählte er uns schnell, daß die Sache mit der Holzkohle geholfen hätte. Das war in der gebotenen Eile unsere ganze Konversation. Mehr war nicht erlaubt, und auch das war schon verboten.
Ein paar Tage später sah ich ihn dann noch einmal, und das war dann endgültig auch das letzte Mal. Es war ein trauriger Anblick. Ungefähr zehn Männer, in fünf Paaren, zogen einen Leiterwagen hinter sich her aus dem Lager heraus. Alle verkommen, elend und ein Bild voller Resignation und Hoffnungslosigkeit.
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Edmund Wilson 1895–1972
(London)
Als ich im April, eben in London angekommen, von englischen Freunden zu einem Essen in ein erstklassiges Restaurant eingeladen worden war, bestellte ich eine «Bratente». Allerdings war mir aufgefallen, daß die Londoner dem Gericht mit einer gewissen Reserve begegneten. Die Ente war denn auch eine Enttäuschung: die kleinen, trockenen und zähenScheibchen stammten von einem Vogel, der selbst für ein unterernährtes Haushuhn unglaublich mager schien. Als ich anderntags in der Nähe von Holborn mit G. durch die engen Straßen lief, stieg uns ein fauler, schaler Geruch in die Nase. Auf seiner Spur stießen wir auf ein kleines Geschäft, dessen Regale mit Reihen toter Krähen ausgelegt waren. Das war offensichtlich alles, was sie in diesem Laden verkauften.
Paul Valéry 1871–1945
Paris
Es erstaunt mich, beim Lesen von Robert d’Harcourt – Goethe et l’Art devivre – auf eine Menge «Phobien» und Manien zu stoßen, die Goethe und mir gemeinsam sind – mit bestimmten wesentlichen Unterschieden selbstverständlich. Aber Zahl und Energie der gemeinsamen Wesenszüge sind auffällig.
Meine Hand ist der seinen sehr ähnlich (Abguß beim Abbé Mugnier), und beide sind sehr verschieden von der Victor Hugos. Aber welche
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