Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
1896–1974
vor Berlin
Am 25. April wurden die Gefechte in der Innenstadt immer erbitterter. Der Gegner, der sich auf starke Verteidigungsknoten stützte, leistete hartnäckig Widerstand.
Unsere Truppen hatten große Verluste, doch drangen sie begeistert weiter zum Zentrum Berlins vor, wo sich immer noch das faschistische Oberkommando befand. Das wußten wir aus den Funksprüchen Hitlers, der seine Armeen hysterisch zum Entsatz Berlins aufforderte, ohne zu ahnen, daß diese Armeen schon von der 1. Belorussischen und der 1. Ukrainischen Front zerschlagen worden waren.
Der sowjetische Feldchirurg
Alexander Wischnewski
Ussurisk
Am Morgen begab ich mich zur Medizinischen Verwaltung, wo mir Pesis mitteilte, daß viele Medikamente angekommen seien, darunter etwa 5 Tonnen Glukose und 200 Kilogramm Novovain. Nach seinen Berechnungen muß man mit zweihunderttausend Verwundeten rechnen. Im Radio wurde berichtet, die Truppen der Marschälle Shukow und Konew führten in Berlin Straßenkämpfe. Ja, dort könnte ich nützlicher sein als hier.
*
Martin Bormann 1900–1945
Berlin
Göring aus Partei ausgestoßen!
Erster Großangriff auf den Obersalzberg.
Berlin eingeschlossen!
Der SS-Sturmbannführer
Erich Kempka *1910
Berlin/Führerbunker
Ein Telegramm Görings vom Obersalzberg traf ein. Mit größter Empörung hörten wir den Wortlaut, der etwa folgendermaßen lautete: «Nachdem Sie, mein Führer, mich zu Ihrem Nachfolger bestimmten, falls Sie durch den Tod oder sonstige Umstände nicht mehr in der Lage sein sollten, die Regierungsgeschäfte weiterzuführen, halte ich die Zeit für gekommen, mein Amt als Nachfolger anzutreten. Sollte ich bis zum 26. April 1945, 24 Uhr keine Antwort von Ihnen erhalten haben, nehme ich an, daß Sie mit meinen Forderungen einverstanden sind. gez. Göring.»
In dem kleinen Kreise, in dem dieses Telegramm bekannt wurde, war seine Wirkung größer, als das Einschlagen einer Bombe. [...]
Mit der Erklärung, er handele im Auftrage Adolf Hitlers, gab Bormann etwa folgenden Funkspruch an Göring auf:
«Ihre Absicht, die Staatsführung zu übernehmen, ist Hochverrat. Hochverräter werden mit dem Tode bestraft. Unter Würdigung der guten Verdienste, die Sie sich durch Ihre jahrelange Tätigkeit in Partei und Staat erworben haben, will der Führer nochmals von der Todesstrafe Abstand nehmen, verlangt aber sofort Ihren Rücktritt mit der Begründung, daß Sie infolge Erkrankung nicht mehr in der Lage sind, die Ihnen übertragenen Geschäfte wahrzunehmen. gez. Bormann.»
Der Rittmeister Gerhard Boldt
Berlin/Führerbunker
Diese Nachricht traf Hitler wie ein Keulenschlag. Er weinte zuerst wie ein Kind, dann tobte er wie ein Besessener. Das war in seinen Augen ein unerhörter Treuebruch. Außerdem betrachtete er das Telegramm als ein Ultimatum. [...]
Die Empörung Hitlers teilte sich dem ganzen Bunker mit. Auch Goebbels kochte vor Wut und machte seinen Gefühlen in einem theatralischen Wortschwall Luft, hinter dessen geschwollenen Phrasen von Ehre, Treue, Tod, Blut, Ehre, Sie, mein Führer, Ihnen, mein Führer und nochmals Ehre, sich nur schlecht der Neid zu verbergen schien, daß Göring im Begriff stand, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Der Flugkapitän
Hans Baur 1897–1993
(Berlin)
Tempelhof ging am 22. April verloren, wir hatten also nur noch den Flugplatz Gatow. Am 25. April flogen von hier aus zum letzten Mal die Maschinen nach München und Salzburg. Sie starteten in der Nacht um
2 Uhr, um noch vor dem Licht des neuen Tages an Ort und Stelle zu sein. Lediglich Major Gundelfinger konnte sich nicht auf den Weg machen, weil noch einige Passagiere fehlten. Als er endlich in der Luft war, konnte er sich ausrechnen, daß er noch rund fünfzig Minuten bei Sonnenlicht würde zurücklegen müssen. Von allen Maschinen bekamen wir noch in der Nacht oder in den Morgenstunden Landemeldungen, von Gundelfingers nicht.
Die Nachforschungen nach der Maschine blieben erfolglos. Als ich Hitler Meldung machte, war er sehr erregt, denn ausgerechnet in dieser Maschine war einer seiner Diener mitgeflogen, der ihm besonders am Herzen lag.
Hitler: «Ich habe ihm außerordentlich wichtige Akten und Papiere anvertraut, die der Nachwelt Zeugnis von meinen Handlungen ablegen sollen!» – Hitler konnte sich lange Zeit nicht beruhigen, der Verlust schien ihm unendlich nahe zu gehen.
Frau Henschel
Flugplatz Gatow
Kurz bevor wir unsere Maschine bestiegen – die ersten drei Flugzeuge waren schon gestartet –,
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