Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
zähneknirschende und wilde Aufbegehren gegen eine übergroße Schickung –, das waren Laute wie aus einer höllischen Tiefe. Und wenn sich diese Menschenmassen dann zusammenballten, sei es zum Andrang auf den Essensempfang oder weil irgendwo vielleicht 20 Paar Socken oder 10 Paar Unterhosen ausgegeben wurden, oder zum Ansturm auf ein Unterkunftszelt, in dem höchstens 30 Mann Platz finden konnten, dann wuchs dieser Schwall zu dämonischer Größe an. Ich habe dabei oft an jene Bilder alter Maler denken müssen, vom Sturz der Verdammten, an jene stürzenden Menschenleiber, an jene verzerrten Gesichter und verkrampften Arme und Hände, die aneinander Halt suchen und die doch, weil keiner einen Stand hat, sich nur gegenseitig weiter in die Tiefe ziehen. Hier tat sich die Dimension wirklicher Gottverlassenheit auf, und wir waren alle schon deutlich auf dem Weg, an dessen Ende jene apokalyptische Vision der Bibel und jener alten Maler steht. Es gehörte für mich zu den wichtigsten Erlebnissen der Lagerzeit, diese äußersten und letzten Möglichkeiten auf dem Weg des Menschen, von denen die Bibel zwar offen redet, die wir Theologen aber doch immer etwas umgangen haben, so als nackte Wirklichkeit bestätigt zu sehen.
Philipp Schasset †1983
Kriegsgefangenenlager Remagen
Vor dem Hinlegen für die Nacht gingen wir nacheinander – einer mußte zur Bewachung immer im Loche bleiben – zu den Latrinen, wo sich jedesmal, wenn wir hinkamen, alles Elend der Massen offenbarte. So wurden die Tage in mancherlei Stumpfsinn verbracht, durch keinerlei beglückenden Hoffnungsschimmer erhellt. Immer den Mantel um die Schultern gehängt oder richtig angezogen, Kragen hoch, Hände in den Taschen, die Mützenklappen meist auch herunter – so standen wir fröstelndund vor der Nässe schaudernd in unserem Loche, immer grübelnd: Was wird, was kommt, wie lange noch?
Franz Bittkowski *1915
Kriegsgefangenenlager Bad Kreuznach
Sehr kalte, mondklare Nacht. In einer Konservendose «große Wäsche»! Drei Stunden nach Wasser angestanden. Wie jeden Tag mehrere Stunden nach Verpflegung angestanden.
Herrlicher Sonnenaufgang. Schöner Tag.
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Der Obergefreite Karl Friedrich Waack *1921
Grabow
Zurück über Karstädt – Wittenberge – Pritzwalk nach Neustadt/Dosse. Dort Ausladung und Marsch nach Grabow bei Freyenstein. Weil die Kompanie nur noch wenige Fahrzeuge hat, dürfen nur die Älteren mitfahren, wir Jüngeren müssen marschieren. – In Grabow kann ich in der Dorfkirche Orgel spielen. Unter den Zuhörern sind auch KZ-Häftlinge, die unter SS-Bewachung nach Westen geführt werden, hier in einem Wirtshaussaal übernachten und sich ziemlich frei bewegen können.
Ein Arzt †1945
Wittstock a.d. Dosse
In der Stadt ebbt der Durchstrom ab. Viele Trecks, die nach dem Norden ziehen. Eine Reihe von ca. 1000 weiblichen KZ-Angehörigen marschiert durch die Stadt, ein erbarmungswürdiger Anblick, junge Mädchen und alte Frauen, z. Teil barfuß, z. Teil in Hausschuhen, sogar ein Fuß nackt, der andere im Schuh. Im Ausländerbarackenlager vor der Stadt liegen 300 Jüdinnen, die sich dem Zug anschließen sollen.
Nachmittags gegen 3 Uhr kommt ein Feldwebel mit einer Schwester und bittet mich dringend, zur Hilfeleistung zum Lazarettzug zu kommen, der auf der Berliner Strecke vor Wittstock steht. Ich gehe mit Charlottchen hin und finde wieder ein trostloses, trauriges Bild des Zusammenbruchs. In Viehwagen, nur auf wenig Stroh, viele zusammengepfercht, so daß man achtgeben muß, keinen Verwundeten zu treten, liegen ca. 700 zumeist Schwerverletzte. Kein Arzt ist im Zug, nur eine Schwester. Kein Verbandmaterial, keine Tabletten, keine Medikamente. Aus allen Wagen verlangt man Hilfe. Ich lasse mich mit Mühe in einen Viehwagen hineinziehen. Ein Bild des Elends: Auf beiden Augen blind, ein Bein amputiert, Lungenschuß mit Bluthusten und hektischem Aussehen. Eine Frau mit Armschuß. Daneben ihr Kind mit einem Rückenschuß und beginnendem Scharlach. Ein 16-jähriger Südtiroler, beide Beine amputiert.Ein Toter mit Decken zugedeckt. Armamputierte. Ein Schädelschuß. Eine Querschnittslähmung, der Katheter, der einliegt, funktioniert nicht, ist wohl verstopft. Die Harnblase ist prall gefüllt. Grauenvoll! Die allerschwersten Fälle lasse ich ins Lazarett abtransportieren. Mit Charlottchen und der Zugschwester verbinde ich die notwendigsten Fälle. Alle Verbände sind schwer durchweicht, stinken, sehen nach Gasbrand und Pyocyanus [?] aus. Viele Verwundete
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