Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Gegensätze: Der Ordnungssinn, die Kunst, sich zu entziehen usw. Von alledem vermag ich nichts.
Das wäre nur interessant, wenn man ein sorgfältiges Verzeichnis der Unterschiede anfertigen würde.
Addenda. Ich stoße bei dieser Lektüre auch auf Aspekte Goethes, welche in meinem Faust vorkommen, von denen ich jedoch vor der Niederschrift nichts wußte.
So der Auftritt des Schülers in Lust und die große Szene des II. Akts. Ich sehe überhaupt nicht, wie ich mir diese auffälligen Ähnlichkeiten zurechtlegen soll, die ich in der Ego-Ästhesie mit Goethe habe, während er doch, so scheint mir, in andern Punkten wiederum ausgesprochen Gide gleicht. Pflanzen, Insekten, Fluchten, einstudierte Haltungen, Schüler usw.
Es gibt vielleicht chrononomische Resonanzen. Ich fühle mich mehr und mehr siebzehnhundert ... Seit einem Monat berausche ich mich an Voltaire (Briefe).
Hans Friedrich Blunck 1888–1961
(Greben/Holstein)
Eine Zuschrift. Jemand will die Welt und insbesondere die europäische Gegenwart auf Grund der Erkenntnisse über die Gestalt des tetraoiden Atoms bessern. Beginn der Heilsanpreisungen? (Eine seiner Überschriften: Das gegenwartsgeforderte Urbild vom einheitlich tetraedisch strukturierten C-Atom als höchstwertigen Kern- und Schlüsselprinzip der Europa neu einenden Weltschau.) Da der Verfasser Dr. habil. ist, begann man ernsthaft zu lesen.
Die Tage sind unsagbar schwer. Das Herz will nicht mehr recht und soll sich frisch erhalten für die Aufgaben, die vor uns liegen. Gut, dass das Haus nicht viele Spiegel hat!
Versuch der Ablenkung durch Stifters «Nachsommer». Aber diese Schilderung bis in die letzte Einzelheit ist in dieser Zeit nicht lesbar, und unerträglich ist auch, an das dort beschriebene herrliche Wien zu denken und an die Sommer in Österreich, an Zeit und Raum, den die Menschen dort unten hatten, und an die Vernichtung dieser Tage. [...]
Gustav Frenssen ist gestorben. Weltanschaulich waren wir einander sehr fern, als Landsleute nahe und gut freund. In Einsamkeit hat er seine letzten Jahre vergrübelt. Ihm ist wohl, dass er diese Tage nicht wie wir zu erleben braucht. [...]
Eine der englischen Zeitungen gab gestern Stimmungsbilder wieder. «Der Major der Luftwaffe Bell erklärte als seine Weltanschauung, dass man alle Deutschen nebst Frauen und Kindern töten müsse und dass er kein grösseres Vergnügen fände, als sich dabei hervorzutun.»
Ich könnte keine deutsche Stimme nennen, die solche unmenschliche Äusserung getan hätte, habe im ganzen Krieg nichts derartiges vernommen.
*
Martin Cranz *1926
Kriegsgefangenenlager bei Dülmen
Die mit uns vollgepfropften Armeelastwagen brausten mit aufgeblendeten Scheinwerfern durch das östliche Ruhrgebiet nach Norden, wir mußten uns gegenseitig festhalten, um nicht in Kurven über Bord zu gehen, was ja gerade verhindert werden sollte. In der Nähe von Dülmen stoppte der Konvoi. Ringsum dehnten sich Wiesen und Felder, längs der Straße unterbrachen zwei altersschwache Bürgerhäuser die Pappelreihen. Aufgeregte Kommandos forderten uns auf, abzusteigen, hier auf freier Flur. Mannshohe Stacheldrahtspiralen kreuzten den bangen Blick, wir mußten uns durch eine wirre Drahtschleuse auf einen Acker zwängen – von Zehntausenden zertreten, oder waren es fünfzehntausend Männer, die diesen Pferch wie zu einer Schlachtviehzählung füllten? Die Nacht dunkelte herüber und es regnete, zunächst zaghaft, dann nachdrücklich, dann unerbittlich. In der Platzmitte rückten die Gefangenen zusammen, sie standen dicht an dicht und ich mittendrin. Es sammelten sich immer mehr, um die Körper möglichst trocken und warm zu halten, und da begann jemand zu singen, zwei, drei folgten, dann alle, hundertfach, tausendfach: Hauslieder, Volksweisen, Heimatlieder – einmonumentaler Chor, bewegt von leidvoller Sehnsucht und weher Hoffnung. Im Mitternachtsgrau verstummte der Menschensockel, zerfiel, manche der sich gegenseitig Anlehnenden sanken vor Müdigkeit und Schwäche auf die quatschnasse Erde. Es goß durch bis zum Morgen und dann weiter den ganzen Tag über.
Gerhard von Rad 1901–1971
Kriegsgefangenenlager
Bad Kreuznach
Das war dann jene Zeit, in der jedes Witzwort von den Lippen der Männer verschwunden war. Um so mehr nahm das Fluchen überhand. Man ist ja als Soldat einem saftigen und derben Wettern gegenüber abgebrüht, und das hat nichts zu sagen; aber was da und wie da geflucht wurde – ich meine dieses hilflose und ohnmächtige, dieses
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