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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Bürgermeister war besonnen genug gewesen, es kampflos zu übergeben. Doch die Deutschen blieben ängstlich in ihren Verstecken. Ich spürte plötzlich wieder quälenden Hunger und in dem Augenblick begriff ich, was es für uns bedeutete, «frei» zu sein. [...] Ich ging in ein Haus und fand die Bewohner in der Küche eng aneinandergedrückt am Tisch sitzend, eine Mutter mit vier Kindern und eine Großmutter. Dazu Tanten und Nichten, die alle aus dem Ruhrgebiet hierher evakuiert worden waren. Es war angenehm warm in dem überfüllten Raum, auf dem kleinen Tisch dampfte eine Kanne Kaffee. Tief atmete ich diesen so lang vermißten Duft ein. Ich fragte nach einer Tasse, fragte nach Brot. Man gab mir schwarzen Kaffee, und dicke Brotscheiben, die mit Speck belegt waren. Niemand sagte etwas. Nur, so ganz bereitwillig wollten sie den Speck nicht herausrücken, denn als ich mich niedersetzte und auf das Brot wartete, begann die Frau zu jammern: «Wir haben ja selber nichts. Die Sowjets haben heute in der Nacht alles weggenommen.» Ich wußte, sie log. Denn das Militär hatte ihr Brot nicht nötig, deswegen sagte ich in bestimmtem, festem Ton: «Geben Sie mir Brot mit viel Butter, aber warten Sie nicht zu lang damit.» Es dauerte eine knappe Minute. Ich aß, betont ruhig, bis ich satt war, sprach aber nichts mehr. Mein Blick fiel durch das Küchenfenster auf den Dorfplatz. Ich sah einen Brunnen und im Hintergrund den Kirchturm. Die Mutter strich einem Kind über das Haar und jammerte: «Siehst du, jetzt kommen sie, jetzt werden sie die Kirche anzünden, und wir werden alle verbrennen. Kinder, kommt in den Keller. Sie kommen!»
    Für mich war es das erste Beispiel, wie allgegenwärtig die Goebbels-Propaganda noch war – auch nach der Befreiung ...: «Die Russen stecken alle Kirchen in Brand und ermorden Frauen und Kinder.» Die Moffen in Tröbitz glaubten das fest.
    *
    Nat alja Krischanowskaja *1909
Sowjetunion
    An ihren Mann
    Lieber Witussik!
    Heute ist ein ganz besonderer Tag: im Radio haben wir gehört, daß unsere Truppen von Osten und von Süden her nach Berlin eingedrungen sind. Diese freudige Nachricht hat bei uns eine solche Aufregung verursacht, daß ich es gar nicht beschreiben kann! Stolz, Begeisterung, Vorfreude auf das Wiedersehen – das sind die Gefühle, von denen wir alle erfaßt wurden ... Berlin – das heißt: die Höhle des faschistischen Untiers – steht kurz vor der völligen Vernichtung!
    Mein lieber Witussik, ich bin mir sicher, daß diese Postkarte Dich erst nach Kriegsende erreichen wird, nach der vollkommenen Kapitulation des faschistischen Untiers Deutschland, und daß dies in den nächsten Tagen geschehen wird, ist meine feste Überzeugung! Bis zum baldigen Wiedersehen, mein Liebster!!! Wir küssen Dich ganz, ganz herzlich, Deine Natalka, die Mamas und die Kinder.
    Ich warte auf Briefe von Dir. N.
    Der Rotarmist Boris Gindin 1926–1945
Tschechoslowakei
    An seine Mutter Olga Gindina
    Liebe Mama!
    Jetzt befinde ich mich in einem dichten Fichtenwald. Es ist etwas kalt geworden, wir sind jetzt einfach etwas nördlicher. Gerade habe ich heißen Tee getrunken: da wurde es mir wärmer. Es nieselt seit dem Morgen. Ich blicke in etwa auf so ein Bild wie das in dem Lied, weißt du, es gibt so einen Walzer, «Im Wald nahe bei der Front». Es sind aktuelle Zeitungen gebracht worden. Da finden sich außerordentlich interessante Mitteilungen. Die Truppen der Marschälle Shukow und Konew sind nach Berlin eingedrungen. Die schlagen ordentlich zu. Und dann noch unsere Alliierten. Ich verstehe nicht, was der Deutsche da noch die Zähne fletscht. Egal, bald werden sie ihm den Todesstoß versetzen.
    Auf Wiedersehen. Gruß an alle, alle, alle.
    Der Rotarmist Boris Bajanow
vor Berlin
    An seine Frau
    Meine liebe Asko!
    Ich bin durch das Umland von Berlin gefahren, überall sieht man die Folgen heißer Kämpfe, Schützengräben, Panzergräben, ausgebrannte Panzer, Waffen, die von den Deutschen zurückgelassen wurden. Die Gegend ist schön, es gibt Kiefernwälder, viele Seen und in deren NäheOrtschaften mit Wochenendhäusern. Die Natur ist immer die Natur. Aber trotz der Freude des Sieges bleibt einem doch die ganze Zeit spürbar und bewußt, daß man auf fremder Erde ist, und mit Innigkeit denkt man an unsre Gegend um Moskau, die uns lieb und teuer ist.
    Ich sende Dir, Liebe, einen Gruß aus dem Umland von Berlin. Gruß an die Töchterchen
    Ich küsse Dich
    Dein Boris
    Der sowjetische General
    Georgij Shukow

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