Das echte Log des Phileas Fogg
ihm zu, er solle den Mund halten.
Um den Wagen tanzte wild eine Horde langbärtiger, nackter alter Fakire, die dabei verzückt die eigenen Körper mit Messern traktierten.
Dahinter schritten weitere Brahmanen. Mit sich führten sie eine junge Frau, die anscheinend nicht freiwillig an dem Umzug teilnahm. Trotz ihres gegenwärtig stumpfsinnigen Gesichtsausdrucks und ihres unsicheren Gangs war sie schön. Ihr Haar war schwarz, ihre Augen braun, doch die Haut war so hell wie die einer Engländerin. Sie trug ein golddurchwirktes Gewand und einen leichten Musselinumhang, die ihren prachtvollen Körperbau erkennen ließen. Die Frau war reich geschmückt mit Armbändern, Ringen und Ohrringen, besetzt mit Edelsteinen aller Art.
Einige Männer, in deren Mitte sie wankte, waren offenbar ihre Bewacher. Sie trugen Säbel und prunkvolle Pistolen und Flinten; vier andere Schwerbewaffnete schleppten auf den Schultern eine Bahre, worauf ein in kostbare Gewänder gehüllter Leichnam lag.
Fogg sagte nichts. Passepartout pfiff wiederholt vor Verwunderung. Die Leiche war die des Radschahs von Bundelkund.
Den Schluß der Prozession bildeten wieder Musikanten und weitere blutüberströmte Fakire.
Sir Francis zog eine trübselige Miene. »Ein Sutti«, sagte er.
»Ein Sutti?« meinte Fogg, als die Prozession vorüber war. »Was ist das?«
Diese Frage von einem so gebildeten und kenntnisreichen Mann wie Fogg wirkt ziemlich seltsam. Vielleicht schob Verne die Frage lediglich in den Dialog, um den Leser aus Sir Francis’ Mund zu belehren.
»Ein Sutti ist ein Menschenopfer, aber ein freiwilliges. Morgen früh wird sich diese Frau lebendig verbrennen lassen.«
»Im größten Teil Indiens konnten wir die Werte englischer Menschlichkeit durchsetzen. Aber in einigen abgelegenen, wilden Gebieten und vor allem in Bundelkund haben wir keinen Einfluß. Im ganzen Land nördlich des Vindhyagebirges werden immer wieder alte und junge Witwen verbrannt.«
»Die arme Frau!« Passepartout bekreuzigte sich. »Lebendig verbrannt zu werden!«
Sir Francis erläuterte, daß eine Witwe, wenn sie sich dem Opfer entziehe, von ihren Verwandten mit höchster Verachtung behandelt werde, ja, von allen, die von ihrer Weigerung erfuhren, mit ihrem Gemahl zu Asche zu werden. Sie müsse sich den Kopf kahlscheren und erhalte nur die dürftigste Nahrung. Sie würde weniger sein als eine Paria, eine Ausgestoßene, denn selbst diese vermochten noch ihr Schicksal mit ihresgleichen zu teilen. Schließlich würde eine solche Frau an Scham und gebrochenem Herzen sterben.
Sir Francis ahnte nicht, daß es sich mit dieser Frau anders verhielt. Hätte sie aus Bundelkund fliehen können, wäre ihr die Aufnahme bei ihren Verwandten in Bombay sicher gewesen; es waren Parsen, die den Brauch der Witwenverbrennung nicht pflegten. Die Gebräuche der Parsen, die Zarathustra als Propheten verehrten, unterschieden sich von denen der Hindus im gleichen Maße wie die der orthodoxen Juden von ihren heidnischen Nachbarn.
Der Parse widersprach Sir Francis.
»Die Frau, die wir sahen«, behauptete er, »geht nicht freiwillig auf den Scheiterhaufen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Diese Geschichte in Bundelkund ist bekannt.«
Bei dieser Feststellung handelt es sich um eine weitere der zahlreichen Merkwürdigkeiten in Vernes Reise um die Erde in 80 Tagen. Der Parse wohnte nur ca. 50 km von den Grenzen Bundelkunds entfernt. Doch wegen der Berge des Dschungels und der Abgelegenheit seines Heimatdorfes waren das so gut wie 500 km. Die Bundelkunder hegten Feindschaft gegen Leute, die seiner Religion anhingen, und plauderten wohl kaum mit ihnen über Neuigkeiten. Und woher konnte er wissen, daß der Radschah tot war? Seit Antritt des Marsches hatte er mit niemandem außer den drei Europäern gesprochen, und der Radschah war erst in der vergangenen Nacht umgekommen. Und doch schreibt Verne, der Parse habe alles gewußt.
In Wahrheit hätte keiner der Reisenden über die Hintergründe der beobachteten Prozession Bescheid wissen können, wäre alles so verlaufen, wie Verne es schildert. Fogg und Passepartout wußten selbstverständlich, daß der Radschah tot war. Das jedoch konnten sie nicht verraten, und Verne besaß keine Kenntnis von den tatsächlichen Ereignissen jener Nacht. Der Parse jedenfalls erklärte weiter, man habe die Witwe des Radschahs mit Haschisch und Opium berauscht, um sie in einen Zustand zu versetzen, worin sie sich oder die Allgemeinheit nicht durch eine Weigerung
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