Das echte Log des Phileas Fogg
zu entehren vermochte.
Genauso war es geschehen. Wie jeder gute Romanautor schob Verne jedoch verschiedene rein erdichtete Bemerkungen ein, um lückenhaft überlieferte Tatsachen verständlich wiedergeben zu können.
Dennoch, sollte der Gedanke, die Frau vor dem schrecklichen Ritual zu retten, Fogg wahrhaftig so stark bewegt haben, um ihn in die Tat umzusetzen? Warum hätte er seine ungemein wichtige Mission gefährden und die Wette zu verlieren riskieren sollen, um einen aussichtslos erscheinenden Befreiungsversuch zu unternehmen? War es Menschlichkeit, die ihn zum Eingreifen trieb? Vielleicht. Vielleicht lag es auch daran, daß sich Fogg – obwohl er nirgends erwähnt ist – auf den ersten Blick in die wunderschöne Frau verliebte. Aber das geheime Log enthüllt, daß es ein anderes, zweifellos stärkeres Motiv gab. Ein Eridaner hatte sich Zutritt ins Allerheiligste von Radschah Dakkars Palast verschafft und von dort den Bericht über Ort und Umstände der Aufbewahrung des Distorters geliefert. Sie – denn dieser Eridaner war weiblichen Geschlechts – war dem Radschah so nahe gekommen, wie es sich nur vorstellen ließ. Ihre Schönheit und ihr Charme hatten alsbald die Aufmerksamkeit des Radschahs geweckt, und von diesem Moment bis zur Hochzeit war es ein kleiner Schritt.
Fogg hatte davon schon vor längerer Zeit während eines Whistspiels von Stuart erfahren. So kam es, daß er, als der Weg gerade fortgesetzt werden sollte, jenen bemerkenswerten Vorschlag unterbreitete. »Und wenn wir diese Frau retten?«
»Retten?!« rief Sir Francis.
»Ich habe noch zwölf Stunden gut, die kann ich darauf verwenden.«
»Sie haben ja«, konstatierte Sir Francis, »doch ein Herz in Ihrer Brust!«
»Manchmal, wenn ich Zeit dazu habe«, antwortete Fogg.
Sir Francis muß sich sehr über diesen Mann gewundert haben, dessen Gefühle sich anscheinend auf-und abdrehen ließen wie ein Wasserhahn. Natürlich wußte er nicht, daß die Entscheidung, ob er ein gewisses Gefühl empfand oder nicht, keineswegs bei Fogg lag. Gefühle überkamen ihn wie jeden anderen, nur vermochte er sie abzudrängen und in einer Nervenbahn zu speichern, wo die emotionale Spannung dann kreiste wie heutzutage Elektrizität in einem Stromkreis. Doch er konnte keine Gefühle abtöten. Früher oder später mußte er dafür büßen, und wenn er die Rechnung endlich beglich, erwies sie sich als zwei- oder dreimal so hoch wie derzeitig.
Die beiden anderen Europäer befürworteten seinen Einfall. Doch wie stand es um ihren Führer, den Parsen? Man konnte von ihm nicht verlangen, daß er sein Leben wagte; bestenfalls, daß er sich im Hintergrund hielt und auf sie wartete. Selbst das wäre noch gefährlich genug für ihn.
Der Mann antwortete, er sei ein Parse und die Frau eine Parsin, und daher wolle er ihnen in jeder Beziehung behilflich sein.
Verne behauptet, der Parse habe das Schicksal der Frau genau gekannt. Wahrscheinlich entnahm Verne die Informationen dem offiziellen Reisetagebuch und legte dem Parsen zum Vorteil des Lesers entsprechende, aufschlußreicheÄußerungen in den Mund. Auf jeden Fall wissen wir, daß sie eine berühmte Schönheit war, die Tochter eines reichen Kaufmanns in Bombay. Es kann sein, daß der Parse infolge ihrer Berühmtheit wirklich viel von ihr wußte. Womöglich hatten ihm Reisende, die durch sein Heimatdorf gekommen waren, mancherlei über sie erzählt.
Der Name der Frau lautete Aouda Jejeebhoy, und sie hatte in Bombay eine englische Schule besucht. Ihre Bildung und ihre helle Haut verliehen ihr nahezu das Ansehen einer Europäerin.
Sie war verwandt mit jenem wohlhabenden Parsen, den die Königin zum Baronet erhob, Sir Jametsee Jejeebhoy, dessen Name der interessierte Leser – nebst biographischen Einzelheiten – in Burkes Peerage findet.
Wie der Parse berichtete, sei sie nach dem Tod ihrer Eltern gegen ihren Willen mit dem Radschah verehelicht worden.
(Das war natürlich die Darstellung für die Öffentlichkeit, aber selbst der Radschah hatte daran geglaubt. Es war ihr gelungen, der Hochzeit einen unfreiwilligen Anschein zu verleihen. Es hätte seinen Verdacht erregt, hätte sie ihn mit Freuden geheiratet.)
Der Parse hatte jedoch völlig recht, als er ferner erzählte, sie habe nach dem Tod des Radschahs zu fliehen versucht, sei aber gefangen und zurück in die Hauptstadt gebracht worden. Die Verwandten des Radschahs beharrten darauf, daß die Witwe verbrannt werde, schon deshalb, damit sie nicht das Vermögen des
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