Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
hochdynamisch-flexibel, er springt prompt und stark an, zum Beispiel bei hohen Lernanforderungen, aber auch in unterschiedlichen akuten Belastungssituationen wie einem sozialen Konflikt. Diese Kinder haben sowohl durch Erfolge als auch durch Misserfolge gelernt, die Stärke ihrer Stressreaktion differenziert und ökonomisch an die jeweilige Belastungssituation anzupassen. Sind Gefahr oder Konflikt gemeistert, fährt ihr Brain-Pull in dieser Erholungsphase ebenso schnell wieder zurück in seine Ruhelage. Nachts schlafen sie dementsprechend tief und ruhig.
Ohne diese Ruhezeiten aber bleibt der Belastungsmodus dauerhaft aktiv – Tag und Nacht. Die Folgen sind schlechte Laune, depressive Verstimmungen, Schlaflosigkeit. Und wenn die Ruhe fehlt, kann das dazu führen, dass das Kind sich Alternativen sucht, um das Stresssystem anderweitig ruhigzustellen: Comfort Eating oder Alkoholkonsum. Beides wirkt kurzfristig stimmungsaufhellend und entspannend.
Natürlich kann man Ruhepausen schlecht verordnen und schon gar nicht erzwingen. Gerade bei Kindern ergeben sich solche Unterbrechungen meist auch nicht von selbst. Ruhepausen kann man aber gestalten. Eine angemessene Auszeit für ein Kind, das einen anstrengenden Tag hatte und erschöpft nach Hause kommt oder gerade längere Zeit konzentriert an Hausaufgaben gearbeitet hat, ist beispielsweise eine gemeinsame Mahlzeit, bei der das Kind Erlebtes erzählen und loswerden kann. Ruhe ist jemand, der zuhört. Ruhe kann ein gemeinsamer Spaziergang sein, bei dem man sich austauscht. Aufmerksamkeit, Interesse und Zuwendung sind die besten Beruhigungsmittel für Kinder.
Fragt man Eltern, welche Zeit des Tages sie am schwierigsten finden, antworten viele: die Zubettgehzeit. Kindern die Notwendigkeit des Schlafens zu verdeutlichen ist ein ständiger Kampf, den die meisten Eltern spätestens in der Pubertät ihrer Kinder aufgeben oder verlieren. Dazu trägt die permanente Reizüberflutung, der die Kinder durch erhöhten Medienkonsum ausgesetzt sind, entscheidend bei. Je mehr Zeit unsere Kinder vor den verschiedenen Bildschirmen verbringen, desto später und weniger werden sie schlafen. Wir haben bereits erfahren, dass chronischer Stress und psychische Überlastungen bei der Gruppe von Menschen, die ihre Stressantwort an die Überlastung angepasst hat, eine Brain-Pull-Schwäche verursacht haben. Und das typische Symptom einer Brain-Pull-Schwäche ist die Schlafstörung, denn Wachsein ist unabdingbar, um den hohen Gehirnbedarf über den Body-Pull sicherzustellen. Übrigens schläft auch die Gruppe Menschen schlecht, die ihre Stressantwort nicht an die chronische Überlastung angepasst hat, denn erhöhtes Kortisol stört ebenso die Architektur des Schlafes.
Doch was bewirken Schlafdefizite bei Kindern? Für alle Eltern, die Argumente dafür brauchen, um den Schlaf-Wach-Rhythmus ihrer Kinder besser zu strukturieren: Längenwachstum, Hirnreifung und Gedächtnisbildung finden im Schlaf statt, und zwar überwiegend im Schlaf. Das Entscheidende aber ist: Der Schlaf setzt das Stresssystem in seine Ruhelage zurück. Wie das Wimperntierchen im Ozean findet das Kind im Tiefschlaf seinen absoluten Wohlfühlbereich. Hier liegt der behütete Garten der Erinnerung. Was wir heute in der modernen Hirnforschung über Schlaf, Gedächtnis, Hippocampus und Amygdala neu zu entdecken glauben, hat Marcel Proust, ein genauer Beobachter der menschlichen Seele, bereits vor hundert Jahren treffend in Worte gefasst: »In den Tiefen des Gartens liegt das Kloster mit den offenen Fenstern, in denen die Lektionen hergesagt werden, die es vor dem Einschlafen gelernt hat und erst beim Erwachen auswendig kann.«
Epilog
Das Zeitalter, in das wir eingetreten sind, wird durch Kommunikation definiert, die Möglichkeiten des Informationsaustauschs erscheinen grenzenlos. Wir leben in der Epoche des Realtime-Web, des weltweiten Internets in Echtzeit. War früher ein Brief tagelang unterwegs, kann heute ein Gedanke, mit einem Laptop aufgeschrieben, per E-Mail in Sekunden um die Welt reisen. Wir können mit Menschen am anderen Ende der Welt in einer Geschwindigkeit kommunizieren, als säßen wir ihnen gegenüber – beinahe jedenfalls. So, wie wir im Allgemeinen Kommunikation verstehen, ist sie nach außen gerichtet, global. Was ist aber mit der Kommunikation in unserem Inneren? Wir tragen in uns ein Kommunikationssystem, das sich in seiner Komplexität und Geschwindigkeit durchaus mit dem World Wide Web messen kann –
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