Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
werden wir uns in den nächsten Kapiteln beschäftigen.
Strategien zur Krisenbewältigung
Wir haben bereits erfahren, dass das egoistische Gehirn stets darauf abzielt, seinen Energiefüllstand in sehr engen Grenzen konstant zu halten. Es verfährt dabei so wie der sehr genau rechnende Familienvater, der sich wegen der finanziellen Belastung durch eine unerwartet teure Autoreparatur mit allen Mitteln bemüht, den Kontostand der Haushaltskasse im Plus zu halten, indem er einerseits durch Überstunden und eine Nebentätigkeit die Kontoeingänge erhöht, andererseits durch Einsparungen (kein Urlaub, keine Neuanschaffungen, weniger neue Kleidung) die Ausgaben reduziert. Genauso verfährt auch das Gehirn: Es erhöht die Einnahmen (Mehranforderung durch das Stresssystem), und es reduziert die Ausgaben (Einsparung von Energie erst im Körper und dann im Gehirn selbst). Weder bei dem genau rechnenden Familienvater kommt es zu einem Abfall des Kontostandes ins Minus noch beim Gehirn zu einem merklichen Abfall des Energie-( ATP- )Gehalts! Die Haushaltskrise und die Energiekrise im Kopf sind also nicht an roten Zahlen oder an einem zerebralen Energiemangel zu erkennen. Die Krise offenbart sich einzig in der Anstrengung, die Einnahmen zu erhöhen und die Ausgaben zu reduzieren. Beim menschlichen Energiestoffwechsel zeichnet sich der Krisenfall am Anstieg der Stresshormone Adrenalin und Kortisol sowie an diversen Ausfallsymptomen ab.
Eine der schwersten menschlichen Energiekrisen, welche die Medizin kennt, tritt im Rahmen vom Typ-1-Diabetes auf. Die Erkrankung entsteht dadurch, dass sich das Immunsystem gegen den eigenen Organismus, den es eigentlich schützen soll, wendet. Es greift die Insulin produzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse an und zerstört sie irreversibel. Ohne Insulin aber kommt es zu unkontrollierten Kettenreaktionen: Glukose staut sich im Blut und ist so in den Zellen (Muskel, Fettgewebe) kaum noch verfügbar. Das Körperfett kann nicht mehr in den Depots gehalten werden, es schmilzt ab, und freie Fettsäuren überschwemmen das Blut. Diese Energieflut im Blutkreislauf führt dazu, dass wertvolle Glukose über den Urin ausgeschieden wird, während die Zellen hungern. Die Folge sind starke Gewichtsabnahme und gravierende Einbrüche der körperlichen Leistungsfähigkeit.
Diesem dramatischen Verfall wirkt die Medizin mit der Verabreichung von künstlichem Insulin entgegen. Der Patient lernt mit Hilfe des Medikaments, die Funktion seiner ineffektiven Bauchspeicheldrüse »von außen« zu übernehmen. Der therapeutische Effekt ist überwältigend: Ein medikamentös gut eingestellter Patient mit Typ-1-Diabetes hat eine fast normale Lebenserwartung. Er kann arbeiten, eine Familie gründen, Sport treiben, reisen – es gibt kaum Einschränkungen, solange er sein Insulin bei sich hat. So weit, so bekannt. Wie aber reagiert das Gehirn darauf, dass Insulin gespritzt wird, also ohne neuronale Kontrolle in den Blutkreislauf gelangt?
Lukas Z. war sieben Jahre alt, als bei ihm Typ-1-Diabetes diagnostiziert wurde. Seit der Diagnosestellung sind zehn Jahre vergangen. Doch obwohl Lukas sich sein Insulin zuverlässig spritzt, hat sich seine Erkrankung schleichend verändert. Drohende Unterzuckerungen – die für Menschen mit Diabetes typischen Situationen einer akuten Energiekrise – kommen schneller und unmerklicher. Lukas nimmt sie mittlerweile erst wahr, wenn sein Körper fast kollabiert. Diese Unberechenbarkeit macht ihm Angst. Er befürchtet, eines Tages mitten auf der Straße umzufallen und sich dabei zu verletzen. Diese Furcht hat dazu geführt, dass sich Lukas in seinen Lebensgewohnheiten immer weiter einschränkt. Er fährt kein Fahrrad mehr, wagt sich kaum noch aus dem Haus. Vor allem seit er vor einigen Wochen in der Schule auf dem Pausenhof zusammengebrochen war. Er hatte mehrere Minuten bewusstlos auf dem Asphalt gelegen.
Was war in seinem Körper passiert? Alle Gehirnfunktionen außer den lebenserhaltenden waren abrupt heruntergefahren worden. Und das hatte Lukas in Sekundenbruchteilen den Boden unter den Füßen weggezogen. »Global silencing« nennen Neurowissenschaftler dieses Phänomen: die große Stille im Gehirn. Lukas’ Koma war durch einen dramatisch niedrigen Blutzuckerspiegel ausgelöst worden. Der herbeigerufene Notarzt spritzte Glukose ins Blut. Die plötzliche Energiezufuhr bewirkte, dass das »abgestürzte« Gehirn innerhalb von 60 Sekunden alle Systeme wieder hochfuhr. Nach einer kurzen
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